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Armenien: Ministerpräsident will Wahl von Kirchenoberhaupt kontrollieren

19. Juni 2025

In seiner Auseinandersetzung mit dem Oberhaupt der Armenischen Apostolischen Kirche hat der armenische Ministerpräsident Nikol Paschinjan eine neue Forderung aufgestellt. Künftig möchte er einen Rat zur Wahl eines neuen Katholikos einrichten, dessen Mitglieder er selbst bestimmt. In den sozialen Medien rief er Interessierte auf, ihre Bewerbungen per E-Mail direkt an ihn zu senden. Dann würde er persönlich die „Verantwortung auf sich nehmen“, die ersten zehn Mitglieder des Rats auszuwählen.

In seinem Post vom 9. Juni legte er zudem die Kriterien dar, nach denen er die Kandidaten für den Rat auswählen würde. Sie müssten erstens an Christus glauben, zweitens die Bibel ganz gelesen haben, mindestens einmal in den letzten fünf Jahren gefastet haben und viertens jeden Tag beten. Die fünfte Anforderung wäre, dass sie „glauben, dass die Strategie zur Erneuerung des Kirchenzentrums den Interessen der Armenischen Apostolischen Kirche, unseres Volks und unseres Staats entspringt und mit den heiligen Traditionen unserer Vorfahren in Einklang ist“. Paschinjan räumte ein, dass die Kriterien nicht objektiv überprüft werden können und behauptete, er würde „mit Gottes Hilfe“ anhand von Interviews erkennen, ob die Kandidaten sie erfüllten.

Die Aussagen des Ministerpräsidenten sind ein weiterer Schritt im seit Ende Mai eskalierenden Streit zwischen ihm und der Kirche. Schon am 30. Mai hatte er gefordert, dass der Staat bei der Wahl des Katholikos eine entscheidende Stimme haben müsse. Der Parlamentssprecher und die Justizministerin schlossen es daraufhin nicht aus, entsprechende Gesetzesanpassungen zu unternehmen. Außerdem hatte Paschinjan hochrangingen Geistliche vorgeworfen, gegen das Zölibat verstoßen zu haben. Auch dem Oberhaupt der Kirche, Katholikos Karekin II., unterstellte er, gegen das Zölibat verstoßen und eine Tochter zu haben. Diesen Vorwurf wiederholte er am 9. Juni und versprach, seine Behauptungen „im nötigen Format“ zu beweisen, sollte Karekin sie bestreiten. Zudem verlangte er, dass der Katholikos sein Amt aufgibt.

In Anspielung an die Samtene Revolution, die Nikol Paschinjan angeführt und die zu einem Machtwechsel in Armenien geführt hatte, schrieb er in den sozialen Medien, dass seine Bewegung dem Volk den Staat zurückgegeben habe. Nun müsse sie auch die Kirche dem Volk, dem sie gehöre, zurückgeben. Armeniens erstem Präsidenten Levon Ter-Petrosyan warfen Paschinjan und andere Mitglieder seiner Partei Wahlbetrug vor. Dieser hatte zuvor den Sitz der Kirche besucht und sich mit dem Katholikos getroffen. Dabei sicherte er Karekin seine völlige Unterstützung zu und verurteilte die „verfassungswidrigen Einmischungen“ der armenischen Behörden in die Angelegenheiten der Kirche.

Hraparak, ein armenisches Boulevardmedium, drehte den Spieß um und unterstellte Paschinjan eine außereheliche Affäre. Dabei sei die Information nur deshalb von Interesse, damit sich die Menschen eine „Meinung über die moralischen Qualitäten des Premierministers bilden können“. Seine Wählerinnen und Wähler erwarteten eine öffentliche Erklärung von ihm. Paschinjan drohte mit einer Klage, „um zu beweisen, dass Familie und spirituelles Leben Werte und Prinzipien“ für ihn seien, und nicht ein Mittel, um Menschen in die Irre zu führen.

Seit dem verlorenen Zweiten Krieg um Berg-Karabach 2020 hat sich das Verhältnis zwischen der Kirche und der Paschinjan-Regierung schrittweise verschlechtert. Damals forderte Katholikos Karekin II.  den Rücktritt Paschinjans. Zwischenzeitlich kam es zu einer vorsichtigen Annäherung, aber 2023 wiederholte das Kirchenoberhaupt diese Forderung, als Berg-Karabach endgültig von Aserbaidschan zurückerobert wurde und die gesamte armenische Bevölkerung fliehen musste. Zudem führte 2024 ein Bischof der Armenischen Apostolischen Kirche mit dem Segen der Kirchenleitung massive Proteste gegen die Regierung an. (NÖK)

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