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Die neuste Eskalation eines alten Krieges aus der Perspektive der Armenischen Apostolischen Kirche

01. Oktober 2020

Seit fünf Tagen toben im Südkaukasus wieder schwer bewaffnete Auseinandersetzungen. An der gesamten sog. Kontaktlinie zwischen Aserbaidschan und der vor allem von Armeniern besiedelten, international nicht anerkannten Republik Berg-Karabach finden heftige Gefechte statt. Die Bilder zeigen die aufgewachten Gespenster eines alten Krieges, allerdings mit ganz neuer militärischer Technik und Schlagkraft.

Angesichts der jüngsten Eskalation brach. Karekin II., der Oberste Patriarch und Katholikos aller Armenier, seinen Besuch im Vatikan am 27. September vorzeitig ab, um schnellstmöglich nach Armenien zurückzukehren. Es gab nur eine kurze Gelegenheit, sich mit Papst Franziskus über die aktuelle Lage auszutauschen und anschließend im Petersdom ein Gebet für Frieden in seiner Heimat zu Füßen des biblischen Ararats zu erheben.

Zurück in Etschmiadzin rief Karekin II. zum besonderen Gebet für Armenien auf und nahm Stellung bezüglich der Täter und Opfer des Krieges. Die Kirche unterstütze völlig – so der Katholikos – die armenische Enklave in Berg-Karabach und verurteile nachdrücklich jeden gewalttätigen Angriff, der eine Bedrohung für die Freiheit und Existenz der Armenier in Berg-Karabach darstellt. „Wir verurteilen auf Schärfste und zusammen mit unserem Volk die hemmungslosen militärischen Aktionen Aserbaidschans gegenüber der Republik Arzach [armenische Bezeichnung für Berg-Karabach], genauso wie die Angriffe in Richtung der armenischen Grenzen.“

Klare Worte fand Karekin II. auch zur Unterstützung Aserbaidschans seitens der türkischen Regierung: „Die aserbeidschanischen militärischen Aktivitäten, die mit vorbehaltloser Unterstützung seitens der Türkei erfolgen, werden mit dem ungebrochenen Geist und dem Vertrauen in Gott der Soldaten und Kommandanten der mutigen armenischen Armee konfrontiert.“ Nur mit starkem internationalem Druck könnten die Gegner aus Baku und Ankara gestoppt werden und „Stabilisierung, Friedensstiftung und Wiederherstellung eines kreativen bzw. stabilen Lebens in der Region“ zurückkehren.

Die neuste Eskalation ist die Fortsetzung des Krieges von 1988–1994 bzw. eines über drei Jahrzehnte alten sog. „frozen conflict“ zwischen Armenien und Aserbaidschan. Sie begann aber bereits drei Monate vorher, als vom 12. bis 21. Juli schwere militärische Auseinandersetzungen direkt an der armenischen Grenze in der Region Tawusch ausgebrochen waren. Einige Tage lang wurden die Kleinstadt Berd und benachbarte Dörfer durch dauerhaften Artillerie- und Drohnenbeschuss bedroht, und es kam zur Zerstörung mehrerer ziviler Objekte. Laut Angaben des armenischen Verteidigungsministeriums kamen dabei vier Militärangehörige ums Leben, und über 40 Personen, darunter auch Zivilisten, wurden verletzt.

Ende Juli fand die größte gemeinsame militärische Übung mit dem wichtigsten strategischen Partner Aserbaidschans, der Türkei, statt. Dabei konnten die aserbaidschanischen und türkischen Armeen ihre Truppen mit den neusten Waffen auf dem gesamten Territorium Aserbaidschans und der Autonomen Republik Nachitschewan positionieren. Offiziell sollte die gemeinsame Militärübung nur bis zum 13. August laufen. Die Türkei ließ jedoch sowohl ihre F-16 Kampfjets als auch hochrangige Offiziere zusammen mit den mitgereisten Journalisten des staatlichen Fernsehens weiterhin in Aserbaidschan. Zudem erklärte das türkische Außenministerium die „Bereitschaft und Unterstützung des Brudervolkes bei der Lösung des Konflikts in Berg-Karabach mit allen möglichen Mitteln.“

Die militärische Auseinandersetzung im Juli strahlte auch auf die armenische und aserbaidschanische Diaspora in anderen Ländern aus. So kam es in Los Angeles, San Francisco, Brüssel, Köln, Kiew, Moskau und vielen anderen russischen Städten zu Angriffen auf Vertreter oder Einrichtungen der armenischen Diaspora von Mitgliedern der aserbaidschanischen und türkischen Gemeinschaft. Viele empörte Armenier antworteten mit den gleichen Mitteln, so dass es zu Krawallen kam. Diese wurden oft von Zuschauern oder Mittätern aufgenommen und mit Hilfe der sozialen Medien verbreitet. Hassreden im Internet gehören nun zur Tagesordnung vieler Jugendlicher – nicht nur vor Ort im Südkaukasus, sondern auch international.

Oppositionelle aserbaidschanische Medienberichteten über eine bereits seit mehreren Wochen stattfindende Mobilisierung der Staatsbürger. Zudem tauchten im Netz auch selbstgedrehte Videos und Bilder von über 4000 eingeladenen Freischärlern und Dschihadisten aus Syrien auf, die in voller Kampfausrüstung an der Frontlinie zu Berg-Karabach oder in benachbarten Dörfern stationiert wurden. Türkische Sicherheitsfirmen sollen – laut Angaben der eingeladenen Söldner – die Finanzierung übernommen haben, damit sie die „ungläubigen armenischen Schweine“ umbringen.

Nach der Bombardierung von Stepanakert, der Hauptstadt von Berg-Karabach, sowie verschiedener ziviler Objekte in Berg-Karabach, verhängte Armenien das Kriegsrecht und verkündete die Generalmobilmachung. Es gab auch Luftangriffe auf die Stadt Vardenis, innerhalb der Grenzen der Republik Armenien. Tausende Bürger aus allen Altersgruppen meldeten sich vor der offiziellen Mobilisierung zum freiwilligen Einsatz und wurden schnellstmöglich nach Arzach gebracht. Leider steigen auch die Todeszahlen täglich. Laut dem armenischen Verteidigungsministerium sind in den ersten vier Tagen 104 Militärangehörige und neun Zivilisten, darunter auch Frauen und Kinder, ums Leben gekommen.

Hunderte Verwundete und obdachlos Gewordene wurden aus den zerstörten Gebieten nach Jerevan transportiert, um dort in die Krankenhäuser eingeliefert oder von lokalen Familien beherbergt zu werden. Die Eilmeldungen über Schwerverletzte und der dringende Bedarf an Blutspendern brachten so viele Menschen zu den Krankenhäusern, dass es dort zu langen Schlagen kam. In allen Regionen des Landes und vor allem in der Diaspora wurden sofort großzügige materielle Spendenaktionen veranstaltet. Es gibt also nicht nur eine militärische, sondern auch eine moralische Mobilisierung der Gesamtbevölkerung.

Gespräch mit Erzbischof Pargev (Martirosyan) von Karabach
Harutyun Harutyunyan: Eure Eminenz, wir sprechen heute mit Ihnen am 30. September 2020. Ich würde Sie bitten, die aktuelle Lage in Berg-Karabach zu beschreiben und uns über die Rolle der Armenischen Apostolischen Kirche zu informieren.
Zuerst möchte ich erwähnen, dass 1921 die armenischen Provinzen Arzach, Utik und Nachitschewan ungerechterweise von Stalin an die Aserbaidschanische Sowjetrepublik verschenkt wurden. Danach haben sie innerhalb von neun Jahren alle unsere jahrtausendealten Klöster und Kirchen geschlossen. Dadurch sind die hiesigen Armenier unter einen doppelten Druck geraten: einerseits sowjetisch-atheistisch und andererseits aserbaidschanisch-nationalistisch. Trotzdem konnten wir hier 1989 die Diözese der Armenischen Apostolischen Kirche wiedereröffnen. Bis heute wurden in den letzten 31 Jahren insgesamt 90 Gotteshäuser – darunter historische Klöster, Gemeindekirchen und Kapellen – restauriert oder neugebaut. Nun haben wir auch das Kollegium unserer Priester hier und können mit ihnen zusammen das geistliche Leben langsam wiederaufbauen. Wir haben bei uns auch ein Zentrum für Glaubenserneuerung eröffnet und auch weitere Einrichtungen gegründet. Es wurden bereits über 100 religiöse Bücher publiziert.

Nun haben jedoch die Aserbaidschaner erneut und zum wiederholten Mal einen Krieg angefangen. Dieses Mal ist es ein echt gewalttätiger Krieg. So bombardieren sie zivile Objekte und dabei stirbt auch die friedliche Bevölkerung. Für uns ist es eindeutig, dass die Türkei bzw. Recep Tayyip Erdoğan die aserbaidschanische Regierung anstachelt. Deshalb verteidigen wir uns hier in Berg-Karabach gegen ein türkisch-aserbaidschanischen Tandem.

Wie gehen die Gläubigen mit der Situation um?
Ich habe alle Gläubige gebeten, dass sie dauerhaft im Gebet bleiben. Sie wollen daher im 24-Stundentakt Andachten für den Frieden halten. Alle Kirchen sind offen, und überall findet ohne Unterbrechung das Morgenlob, die Abendvesper und die Göttliche Liturgie statt.

Wie beurteilt die Armenische Apostolische Kirche die jüngsten kriegerischen Ereignisse?
Unsere Kirche war immer gegen jeden Krieg. Wir waren immer dafür, die strittigen Punkte friedlich gemeinsam an einem runden Tisch zu lösen. Das haben alle unsere Katholikoi in Etschmiadzin gesagt. Das gleiche hat auch der Scheichülislam von Aserbaidschan während unserer mehrfachen Begegnungen wiederholt. Ich sage also immer, dass dies kein Heiliger Krieg ist, sondern dass es bei diesem Konflikt um elementare Menschenrechte geht. Deshalb waren sowohl unserer Seite als auch der Scheichülislam dafür, dass man diese Frage baldmöglichst und friedlich klärt.

Was wünschen Sie sich von den Schwesterkirchen und ihren Gläubigen in Europa?
Ich möchte die katholischen und evangelischen Gläubigen ebenfalls bitten, ihre Gebete um Frieden an unseren Himmlischen Vater zu richten, damit der Krieg bald beendet wird. Und sie sollten ihre Stimme auf internationaler Ebene erheben, damit die Angriffe auf uns bald aufhören, und wir alle möglichst schnell an einem runden Tisch sitzen und friedlich verhandeln.

Harutyun G. Harutyunyan, Dr. theol., selbständiger Berater und Projektentwickler bei der Syunik-Development NGO und der Diözese der Armenischen Apostolischen Kirche in Vayots Dzor, Armenien.

Bild: Kloster Haghartsin aus dem 10. Jahrhundert in der Region Tawusch nicht weit von der Grenze zwischen Armenien und Aserbaidschan. (© Harutyun G. Harutyunyan)