Kirchliche Reaktionen in Belarus auf die russische Invasion in der Ukraine
Natallia Vasilevich
Die Reaktion der Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften auf die russische Aggression gegen die Ukraine hängt in vielerlei Hinsicht mit den friedlichen Protesten von 2020 sowie deren Unterdrückung und den anschließenden Repressionen während des Jahres 2021 zusammen. Es ist daher nicht überraschend, dass die oppositionelle Gruppe „Christliche Vision“ als erstes mit einer Erklärung auf die russische Invasion in der Ukraine am Morgen des 24. Februars reagierte.
Klare Verurteilung des russischen Angriffskriegs durch „Christliche Vision“
Vor dem Hintergrund der negativen Erfahrungen mit ökumenischen Reaktionen auf die Einmischung Russlands in die Ukraine 2014 stand die Gruppe „Christliche Vision“ hinsichtlich des jetzigen Krieges in der Ukraine vor der Aufgabe, ihre Position möglichst klar zu artikulieren und der ökumenischen Gemeinschaft zu vermitteln, um der Desinformation durch internationale Funktionäre der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) vorzubeugen. Dabei haben zwei Faktoren geholfen: Erstens verurteilte der Vorsteher der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK), Metropolit Onufrij (Berezovskij), den Krieg in der Ukraine eindeutig als russischen Angriff und Aggression und bezeichnete ihn als „brudermörderisch“. Diese klare Positionierung wurde zum Gegengewicht jeglicher Erklärungen seitens des Moskauer Patriarchats und spiegelte den Konsens der religiösen Anführer und Gemeinschaften in der Ukraine wider. Zweitens fand am 25. und 26. Februar die europäische Vorversammlung zur Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen Anfang September 2020 in Karlsruhe statt, an der Kirchenvertreter aus ganz Europa teilnahmen und die ukrainische und belarusische Seite die Möglichkeit hatten, ihre solidarische Position mitzuteilen.
In der Stellungnahme von der Gruppe „Christliche Vision“ gibt es vier wichtige Aspekte: Erstens die eindeutige Definition der Geschehnisse in der Ukraine als kriegerische Aggression seitens Russlands. Zweitens der Hinweis auf die Rolle des Lukaschenka-Regimes, der das Territorium der Republik Belarus als Brückenkopf der kriegerischen Aggression zur Verfügung stellte, um so auf die faktische Okkupation des Landes durch Russland aufmerksam zu machen. Drittens die Verantwortung des Putin-Regimes für die Aggression konkret zu benennen, und zwischen dem russischen und belarusischen Regimen und ihren Unterstützern einerseits und der russischen und belarusischen Bevölkerung andererseits zu differenzieren. Viertens den Hinweis auf die Rolle der religiösen Oberhäupter in den entsprechenden Ländern und die Notwendigkeit einer Reaktion: „Wir bitten die Kirchenleitung von Russland und Belarus, ihre autoritative Stimme zur Verteidigung des Friedens zu erheben, die Aggression zu verurteilen, die Regierung von Russland und Belarus aufzufordern, alle Feindseligkeiten einzustellen und den bereits angerichteten Schaden mit allen Mitteln zu kompensieren.“
Katholische Gläubige kritisieren Stellungnahme der Bischofskonferenz
Im Gegensatz dazu versuchten die römisch-katholische Kirche in Belarus und die Belarusische Orthodoxe Kirche diese Punkte in ihren Stellungnahmen zu vermeiden. Am 26. Februar veröffentlichte die katholische Bischofskonferenz von Belarus eine kurze Erklärung „im Zusammenhang mit dem Konflikt in der Ukraine“. Darin wird die Rolle Russlands und von Belarus im „Konflikt“ mit keinem Wort erwähnt; der Hauptinhalt des Dokuments war der Aufruf zum Fasten und zum Gebet „mit der Intention des Friedens“.
Im Umfeld katholischer Oppositioneller rief diese Erklärung einen Sturm der Entrüstung hervor. Ein Mitglied der Gruppe „Christliche Vision“, der Katholik Artjom Tkatschuk, der 2020 die Kampagne „Ein Katholik fälscht nicht“ initiiert hatte, reagierte mit dem Kommentar: „Wenn man so etwas sagt, sagt man besser gar nichts“. Er initiierte einen Appell von Katholikinnen und Katholiken an die Bischöfe der belarusischen Bischofskonferenz, der zu einer außerplanmäßigen Versammlung aufrief und forderte, sich deutlich zu äußern und über die „Aggression der russländischen Streitkräfte gegen die Ukraine, der Teilnahme von Belarus daran und einer möglichen Mobilisierung, die gerade vor sich geht und geplant wird,“ ein klares und verständliches moralisches Urteil zu fällen. Innerhalb eines einzigen Abends wurden 350 Unterschriften gesammelt, die unverzüglich an die Bischöfe geschickt wurden.
Seine Empörung über die Stellungnahme der römisch-katholischen Bischöfe äußerte auch der Priester Jurij Peschetko, der bereits 2020 gegen das Verhalten des neuen Apostolischen Nuntius, Erzbischof Ante Jozić protestiert hatte, der bei der Übergabe seines Beglaubigungsschreibens an Lukaschenka gut gelaunt mit dem Diktator mit Sekt angestoßen hatte. Damals hatte Peschetko mit dem Plakat „Contradictur“ vor der Nuntiatur protestiert. Heute schrieb der Priester in seinem Blog „Wozu brauchen wir einen solchen Bischof?“ eine Reaktion auf ein Sendschreiben zur Fastenzeit von Bischof Antonij Demjanko von Pinsk, der darin zum Krieg in der Ukraine schweigt. Kritisch gegenüber der Stellungnahme der Bischöfe äußerte sich auch der Autor des beliebten Telegram-Kanals „Rerum Novarum“: „Vielleicht sollte man endlich die Eier haben und normale und harte Erklärungen abgeben, in denen Sie den Krieg als Krieg bezeichnen und nicht als Sondereinsatz, als eine schlimme Situation oder als einen Konflikt? Mörder als Mörder, Invasoren als Invasoren und Wahnsinn als Wahnsinn zu bezeichnen?“
Aufgrund dieses Drucks „von unten“ rief die katholische Bischofskonferenz in Belarus tatsächlich eine außerordentliche Sitzung ein und publizierte am 3. März eine neue Erklärung. Darin wurden zwei Forderungen der Laien und Priester erfüllt: Erstens erklärte man sich solidarisch mit der Ukraine und wurde zweitens die Bitte formuliert, „dass diejenigen, von denen es abhängt, es nicht zulassen, dass unser Land an diesem Krieg teilnimmt“.
Schweigende orthodoxe Hierarchie, protestierende Priester und Laien
Auch die Belarusische Orthodoxe Kirche (BOK), die zum Moskauer Patriarchat gehört, beeilte sich nicht, irgendeine Erklärung zur Situation abzugeben. Am 25. Februar wurde eine Erklärung von Metropolit Veniamin (Tupeko), dem Oberhaupt der BOK publiziert, in der er den Krieg in der Ukraine mit einem „Familienkonflikt“ verglich und zu Versöhnung und Friedensgebeten aufrief. Gleichzeitig verbat der Erzbischof Antonij (Doronin) von Grodno, seinen Geistlichen für die Ukraine zu beten. Das einzige zulässige Gebet war eine vom Moskauer Patriarchat vorgeschlagene Version, gemäß der am Konflikt in der Ukraine „ausländische Völker“ schuld seien. Nicht einmal die Tatsache, dass die südlichsten Eparchien der BOK, von deren Territorien aus die russischen Streitkräfte die Aggression gegen die Ukraine ausführten, vor allem von ukrainischer Bevölkerung bewohnt werden, hat zu irgendeinen Ausdruck von Solidarität mit der Ukraine geführt. Gemeint sind die Eparchie von Brest, Turov und Gomel.
Ein derartiges Schweigen der belarusischen Bischöfe empörte die ukrainischen Orthodoxen. Geistliche der Eparchie von Rivne der UOK wandten sich mit einer flehenden Bitte, einem „Hilfeschrei“ an Metropolit Veniamin: „Schweigen Sie nicht und wenden Sie sich an das Oberhaupt ihrer orthodoxen Kirche und an den Präsidenten ihres Landes, um den Mord am ukrainischen Volk nicht zuzulassen! […] Schauen Sie dem Krieg in der Ukraine nicht von der Seite zu. Wir bitten um eine öffentliche Verurteilung der Handlungen Russlands und seines Präsidenten Putin! Lassen Sie nicht zu, dass ihre Kinder unsere eigenen Leute umbringen! Wir bitten um Hilfe, Frieden in der Ukraine zu schaffen.“ Eine ähnliche Erklärung veröffentlichten Geistliche und Laien der Eparchie Sarny der UOK. Doch seit der erzwungenen Demission von Erzbischof Artemij (Kischtschanka) von Hrodna im Zusammenhang mit den Protesten von 2020 gegen Gewalt und Gesetzlosigkeit, gibt es in Belarus keine Bischöfe mehr, die ihre Stimme gegen das politische Regime erheben.
Dagegen veröffentlichte eine große Anzahl an Priestern in den sozialen Netzwerken „nur für Freunde“ Aussagen gegen den Krieg und Deklarationen, welche die Gruppe „Christliche Vision“ sammelte und auf ihrem Telegram-Kanal publizierte. Zu den Priestern, die offen über ihre Antikriegsposition sprachen, zählten diejenigen, die sich bereits 2020 gegen Gewalt ausgesprochen hatten: Sergij Lepin, Andrej Nozdrin, Georgij Glinskij sowie Vladimir Drobyschevskij und Alexander Schramko, beide Mitglieder der „Christlichen Vision“, die sich in der erzwungenen Emigration befinden. Mit einer starken Antikriegspredigt trat Diakon Dmitrij Dudkin auf. Eine ganze Reihe von Priestern aus Belarus unterzeichneten den offenen Brief von Priestern der Russischen Orthodoxen Kirche mit dem Aufruf zur Versöhnung. Außerdem wurde ein Priester aus Minsk, Michail Marugo, verhaftet, als er am 28. Februar an einer Antikriegsaktion teilnahm, und zu 13 Tagen Administrativhaft verurteilt.
Gleichzeitig unterstützen diejenigen bekannten Priester, die bereits 2020 Lukaschenka unterstützt hatten, jetzt auch im Krieg die sog. russische „Spezialoperation“ – darunter Andrej Lemschonok und Archimandrit Savva Mazhuko. Letzter verkündete, dass Russen immer recht haben: „Russischer Frieden ist besser als russischer Krieg! Doch wir machen beides um der Gerechtigkeit willen.“
Auch innerhalb des BOK gab es eine Reihe von Initiativen „von unten“, die sich von der Position des Moskauer Patriarchats und seiner belarusischen Filiale distanzierten. In einigen Kirchen weigerten sich Chöre, den Namen von Patriarch Kirill zu erwähnen. Orthodoxe Laien aus Belarus initiierten einen Appell an den Patriarchen, in dem sie ihn „mit letzter Hoffnung“ aufforderten, alles zu tun, um die russische Aggression zu stoppen: „Das ist Ihre historische Mission als Oberhaupt der ROK. Für Ihre Taten und Worte in diesen Tagen werden Sie sich vor dem Jüngsten Gericht Christi verantworten müssen. Dieses Jüngste Gericht findet bereits heute statt! Das Jüngste Gericht, bei dem jeder von uns für sich selbst entscheidet, auf welcher Seite des Herrn er stehen und welche Früchte er tragen wird. Dies ist das Jüngste Gericht für unsere gesamte Kirche, der entscheidende Moment, der ihr Schicksal in der Zukunft bestimmen wird.“
Am 3. März starteten orthodoxe Laien gleich drei Aktionen: Erstens gründeten sie den Telegram-Kanal der „Orthodoxen Gewerkschaft von Belarus“, der Informationen über den Krieg in der Ukraine sammelt, die nach Ansicht der Autoren für die belarusischen orthodoxen Gläubigen wichtig sind. Zweitens erschien auf der Website der wichtigsten orthodoxen Kirche des Landes, der Heilig-Geist-Kathedrale in Minsk, ein Aufruf gegen den Krieg, der auf die Website der UOK weiterleitete – auf den ein Aufruf des Hl. Synods der UOK und von Metropolit Onufrij, die die russische Aggression verurteilten. Die Kathedrale erhielt daraufhin sofort Besuch von den Sicherheitskräften, und die BOK war gezwungen, sich von der Erklärung auf der Website zu distanzieren, indem sie behauptete, die Website sei gehackt worden. Die Aussagen gegen den Krieg wurden als „politisch“ bezeichnet, die nichts mit der offiziellen Position der Kirche zu tun hätten. Interessanterweise wurde diese Formulierung, nachdem sie von der Gruppe „Christliche Vision“ als absurd kritisiert worden war, aus dem Text entfernt. Dies deutet darauf hin, dass es innerhalb der BOK eine Gegenreaktion und eine Möglichkeit gibt, beschränkten Einfluss auf offizielle kirchliche Erklärungen zu nehmen.
Drittens trafen sich orthodoxe Frauen, insbesondere diejenigen, die Söhne im Wehrpflichtalter haben, zu einem Gebet in der Minsker Kathedrale, über das der Telegramkanal „Union der Mütter“ vorab berichtete. Das Regime reagierte ziemlich harsch auf dieses Gebet: Zu Beginn des Abendgottesdienstes befanden sich zahlreiche Polizisten und Polizeibusse sowie Polizisten in Zivilkleidung auf dem Gelände neben der Kathedrale. Frauen, die die Kirche betraten, wurden gefilmt und ihre Papiere kontrolliert. Insgesamt versammelten sich etwa hundert Frauen. Sie trugen keine Plakate und beteten einfach, ohne ihre Teilnahme an einer politischen oder zivilen Aktion irgendwie zum Ausdruck zu bringen. Zwanzig Minuten vor Beginn des Gebets wurden das Journalistenehepaar Diana Seredjuk und Yauhen Batura verhaftet und wegen Ungehorsams gegenüber Polizeibeamten zu 15 Tagen Administrativhaft verurteilt. Vier Frauen, darunter die bekannte orthodoxe Laiin Anastasia Nekraschewitsch, eine der Initiatorinnen des gesamtchristlichen Gebets am 13. August 2020, wurden nach dem Gebetsgottesdienst festgenommen. Igor Latuschko, Priester der Kathedrale, versuchte, die Frauen zu verteidigen, aber sie wurden trotzdem festgenommen. Nach mehreren Stunden auf der Polizeiwache wurden die Frauen wieder freigelassen.
Während in der katholischen Kirche aktive Laien und Priester die Positionen des Episkopats in Belarus beeinflussen können, ist es für die orthodoxen Bischöfe viel schwieriger, die Ukraine und die ukrainischen Orthodoxen öffentlich zu unterstützen, da die Leitung der ROK eine dem Putin-Regime gegenüber loyale Position eingenommen hat und die militärische Aggression rechtfertigt. Ausgehend von den Erfahrungen des Jahres 2020 riskiert jeder Bischof, dessen Äußerungen über den Diskurs des Moskauer Zentrums und die Politik des belarussischen Regimes hinausgehen, den Unmut dieser beiden Akteure und möglicherweise seine Absetzung oder andere Sanktionen. Daher sollte man nicht erwarten, dass die belarusischen Hierarchen ihre Stimme erheben. Deshalb bleibt es Laien und Priestern vorbehalten, sich von ihrem eigenen Gewissen leiten lassen und allen Drohungen zum Trotz die Stimme der Kirche zu sein.
Natallia Vasilevich, Doktorandin an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Mitglied der Gruppe „Christliche Vision“.
Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger, Regula Zwahlen.