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Staatliches Vorgehen gegen Zeugen Jehovas in Russland

28. Januar 2021

Die Zeugen Jehovas sind in Russland verboten, seitdem sie 2017 sie als „extremistische Organisation“ eingestuft wurden. Regelmäßig kommt es zu Verhaftungen und Hausdurchsuchungen. Wie kam es zu dieser Einschätzung und wie wird „Extremismus“ definiert?
Leider wurde diese Einstufung auf der Grundlage einer äußerst unprofessionellen und voreingenommenen Expertise getroffen, die von einer Expertin mit der Qualifikation „Mathematiklehrerin für untere Schulstufen“ und einem Doktortitel in Pädagogik für die Generalstaatsanwaltschaft angefertigt wurde. Den Zeugen Jehovas wurde vor allem ihr exklusives Religionsverständnis zur Last gelegt – also im Grund etwas, das für die meisten Religionen gilt. Die Expertin stellte zusammen mit anderen auch ein Gutachten zu Unterlagen der Zeugen Jehovas für tiefere Gerichtsinstanzen bereit. Die Begutachtung der Expertenkommission Nr. 228/15 vom 22. Juli im Auftrag des Richters des Stadtgerichts von Kurgan enthält dabei die Schlussfolgerung, dass in den Materialien der Zeugen Jehovas „Rechtfertigungen für die Notwendigkeit von aggressiven, gewalttätigen und grausamen Handlungen gegen Menschen aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit“ zu finden sind. Dies gründet sich auf die Vorhersage, dass bei Harmagedon „alle Feinde Gottes“ vernichtet würden. Die anderen Aussagen in diesen Expertisen sind von ähnlicher Qualität. So kam man zu dem Schluss, dass die Materialien der Zeugen Jehovas Feindschaft und Hass gegen Menschen „mit anderer Religionszugehörigkeit“ schüren würden, was laut russischen Gesetzen einer extremistischen Tätigkeit entspricht.

Da eine Reihe Materialien der Zeugen Jehovas als extremistisch eingestuft wurde und weil die Gemeinschaft angeblich diese Materialien weiterhin verbreitet, wurden die Zeugen Jehovas 2017 vom Obersten Gericht zu einer „extremistischen Organisation“ erklärt.

Warum geht der Staat ausgerechnet gegen die Zeugen Jehovas so entschieden vor?
Vor allem aus drei Gründen: Erstens sind die Zeugen Jehovas eine relativ geschlossene Organisation, die nicht im Austausch mit staatlichen Vertretern stand und zugleich den Staat als solchen ziemlich offen negativ beschreibt. In Russland gilt das aus der Perspektive der Strafverfolger an sich schon als verdächtig. Der zweite Grund sind die stetigen Anschuldigungen des „Kindermords“, weil Bluttransfusionen von Nichtmitgliedern für kranke Kinder nicht erlaubt sind. Drittens handelt es sich mit Blick auf den Ursprung der Zeugen Jehovas um eine „ausländische“ Gruppe, die in den USA viele Anhänger hat, was sie im heutigen Russland sehr angreifbar macht.

Wie steht die Russische Orthodoxe Kirche zu den Zeugen Jehovas und dem Vorgehen der Behörden gegen sie?
Insgesamt verhält sich die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) den Zeugen Jehovas gegenüber ziemlich aggressiv, weil sie sie als „totalitäre Sekte“ einschätzt. Die Entwicklung einer „Sektologie“, insbesondere durch den orthodoxen Theologen Alexander Dvorkin, hat dazu geführt, dass die Ansicht der ROK leider zur „Lehrmeinung“ vieler russischer Religionswissenschaftler*innen geworden ist. Außerdem werden die Anti-Sekten-Bücher Dvorkins an vielen Universitäten mit Ausbildungsgängen in Religionswissenschaft und Administration von kultureller Vielfalt als Lehrmittel benutzt. Daher befürwortet die ROK die Aktivitäten der Regierung auf offizieller Ebene. Nichtsdestotrotz gibt es bei Gemeindemitgliedern und beispielsweise bei gebildeten Bibelkundlern und Theologen die Meinung, dass eine solche Verfolgung unzulässig ist. Indem sich die ROK dieser anschließe, verhalte sie sich wie die Römer gegenüber den frühen Christen, das heißt, sie nehme an Verfolgungen wegen des Glaubens teil.

Dmitrij Dubrovskij, Associate Professor an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Höheren Schule für Wirtschaft, Moskau.

Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.

Bild: Publikationen der Zeugen Jehovas an einem Straßenstand. (© Tiia Monto, CC BY-SA 3.0)