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Türkei: Erdoğan-nahes Blatt druckt Putsch-Vorwürfe gegen Patriarch

28. Mai 2020

Nach dem Frontalangriff eines Präsident Recep Tayyip Erdoğan nahestehenden Magazins auf religiöse Spitzenvertreter herrscht unter religiösen Minderheiten in der Türkei Aufregung. Das Magazin Gercek Hayat prangerte in seiner Mai-Ausgabe den Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios, den Istanbuler Oberrabbiner Ishak Haleva und andere religiöse Persönlichkeiten als Verbündete Fethullah Gülens an, dem Erdoğan vorwirft, im Juli 2016 einen Putsch versucht zu haben. Das Oberrabbinat der Türkei und das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel wiesen die Anschuldigungen umgehend als Falschbehauptungen zurück. Auch international stoßen die Vorwürfe auf Befremden.

Das Magazin ist Teil jenes Verlags, der der Familie des Schwiegersohns von Präsident Erdoğan gehört und in dem auch die einflussreiche regierungsnahe Tageszeitung Yeni Safak erscheint. Das Ökumenische Patriarchat brachte in seiner Reaktion auf die Unterstellungen die Sorge zum Ausdruck, dass es aufgrund der Gercek Hayat-Nummer zu „rassistischen Attacken“ und „Entheiligungen“ von christlichen Gotteshäusern und geweihten Orten kommen könnte. Das anhaltende Schweigen der türkischen Führung zu den auf 176 Seiten abgedruckten angeblichen Enthüllungen beklagte auch der mit dem Patriarchat verbundene Blog Phos Phanariou in einem Beitrag unter dem Titel „Daneben getroffen“, wie der Ökumene-Fachdienst der deutschen Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) berichtet.

Die Unterstellungen könnten nicht ohne Zustimmung, wenn nicht gar im Auftrag des türkischen Staatschefs erfolgt sein, so der Autor des Blogbeitrags. Erdoğan bereite – so fürchten am Bosporus die wirtschaftlich starken nichtmuslimischen Minderheiten – in der ausufernden Finanzkrise der Türkei massive Enteignungen von Armeniern, Juden und orthodoxen Griechen mit dem Vorwurf mangelnder Staatstreue vor. Derartige „Abschöpfungen“ wurden in der Türkei in den vergangenen Jahrzehnten schon mehrmals vorgenommen.

In Athen bezeichnete der griechische Regierungssprecher Stelios Petsas die Verdächtigung des Ökumenischen Patriarchen als „ungebührlich“. Aus den USA meldete sich der St.-Andreas-Orden aus bedeutenden griechisch-amerikanischen Persönlichkeiten zu Wort und verurteilte die türkische Propaganda gegen den Phanar.

Die Publikation ziele auf Bartholomaios und andere religiöse Führungspersönlichkeiten „mit gänzlich grundlosen Beschuldigungen“, kritisierte auch Maximos Charakopoulos, Leiter der griechischen Delegation bei der IAO (Interparliamentary Assembly on Orthodoxy), einer Vereinigung orthodoxer Parlamentarier aus 50 Ländern. Die in der Zeitschrift formulierten Behauptungen würden Feindschaft und Hass gegen die Minderheiten in der Türkei bestärken. Der türkische Staat müsse nun klar Stellung beziehen, forderte Charakopoulos. Das Ökumenische Patriarchat müsse durch die offiziellen Institutionen geschützt werden. Das sei auch Aufgabe der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der EU.

Über eine Beteiligung am angeblichen Staatsstreich der Anhänger von Erdoğans Gegenspieler Gülen hinaus, betreffen die Unterstellungen von Gercek Hayat auch weiter zurückliegende Kontakte zu dessen Bewegung. Für sie hat Ankara die – auf den Namen Gülens anspielende – Sprachregelung „Fetö-Terroristen“ (Fethullahci Terör Örgütü) eingeführt. Als Mitverschwörer der frühen Stunde erscheint sogar Papst Johannes Paul II. (1978–2005) auf dem Titelbild des Magazins. Er hatte Gülen 1998 in Privataudienz „Hand in Hand“ empfangen.

Neben dem Ökumenischen Patriarchat und dem Oberrabbinat der Türkei widersprach auch die Armenische Apostolische Kirche allen von dem Blatt vorgebrachten Behauptungen. Aus ihren Reihen wird in dem Magazin als „Gülenist“ der frühere armenisch-apostolische Patriarch von Konstantinopel, Shenork I. Kaloustian, angeprangert, obwohl er lange vorher, schon 1961 bis 1990, im Amt war. Shenork I. hatte 1915 als Kleinkind den Genozid an den Armeniern überlebt, seine Mutter wurde nach der Ermordung ihres Mannes mit einem Muslim zwangsverheiratet.

In dem Gercek Hayat-Pamphlet wird u.a. behauptet, der Vater von Fethullah Gülen sei armenischer Christ gewesen, seine Mutter Jüdin. In diplomatischen Kreisen in der Türkei wird wegen der gesamten von dem Magazin abgedruckten Unterstellungen ein Zusammenhang mit jüngsten öffentlichen Aussagen von Präsident Erdoğan vermutet. Nach Angaben des Pro-Oriente-Informationsdienstes erklärte Erdoğan  etwa am 11. Mai, dass er neben dem „Netzwerk von Gülen“, der PKK oder „feindlichen Verbündeten der Golfstaaten“ auch den „armenischen oder griechischen Lobbies“ keinen Platz lassen werde. „Wir werden weiterhin diejenigen enttäuschen, die glauben, sie würden uns wirtschaftlich in die Enge treiben und blockieren können“, wurde der türkische Staatschef zitiert.

Eine ähnliche Verbalattacke hatte Erdoğan bereits eine Woche zuvor, am 4. Mai, geritten. Damals sagte er, die Behörden würden die Aktionen der „Terroristen“ blockieren, die dem „Schwert entkommen“, aber noch im Land aktiv seien. Dies löste in der weltweiten armenischen und griechischen Diaspora ungeheure Empörung aus. Denn die Formulierung „dem Schwert entkommen“ wird in ihrer türkischen Version als Beleidigung der Überlebenden des Völkermords an Armeniern, Griechen und Christen der syrischen Tradition vor rund 100 Jahren verwendet. (Quelle: Katholische Presseagentur Kathpress, www.kathpress.at)