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Ukraine: Schevtschuk zu Ukraine-Krieg und Nahost-Konflikt

01. November 2023

Der Krieg in der Ukraine ist nach den Worten von Großerzbischof Svjatoslav Schevtschuk „in den letzten Wochen stark eskaliert“. Eine Aussicht auf ein baldiges Ende sieht Schevtschuk aktuell nicht, wie das Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche in einem auf der Webseite der Erzdiözese Wien veröffentlichten Interview darlegte. Bei dem neu entflammten Konflikt im Nahen Osten werde „immer offensichtlicher, dass Russland mit seinen Verbündeten, etwa dem Iran, den Krieg auf die ganze Welt auszubreiten versucht“, so der Geistliche. „Nachdem es nicht möglich war, die Ukraine schnell einzunehmen, sucht Russland auf der ganzen Welt Verbündete.“

Der Krieg werde auch immer mehr zum Thema der Innenpolitik vieler europäischer Staaten, aber auch der Vereinigten Staaten. Schevtschuk: „Es liegt auf der Hand, dass die Taktik darin besteht, die Weltmedien zum Thema Ukraine zum Schweigen zu bringen, indem man die Aufmerksamkeit der internationalen Gesellschaft auf das Heilige Land lenkt.“ Natürlich sei die Aufmerksamkeit um die Ereignisse im Heiligen Land groß, die Stadt Jerusalem sei heilig für drei große Weltreligionen, erinnerte der Großerzbischof. Die Ukrainer fühlten sich mit den Menschen im Heiligen Land tief verbunden und beteten mit ihnen um Frieden, versicherte er. Aber: „Der Gazastreifen ist so groß wie die Hälfte der Hauptstadt der Ukraine. Die Dimensionen dieser beiden Kriege sind unvergleichlich“, so Schevtschuk.

Einmal mehr berichtete der Geistliche über das Ausmaß an Brutalität, mit dem der Krieg in seiner Heimat geführt werde. „Unseren Informationen zufolge verliert die russische Armee allein im Donbass-Gebiet fast 1000 Soldaten pro Tag. Das Ausmaß der Verachtung menschlichem Leben gegenüber, das Russland an den Tag legt, ist erschütternd", so Schevtschuk. „Die Grausamkeit gegenüber der Zivilbevölkerung lässt uns das Blut in den Adern gefrieren.“

In der Ukraine bereiteten sich die Menschen auf den nächsten Kriegswinter vor, dieser werde noch schwieriger als im letzten Jahr, befürchtete der Großerzbischof. „In diesem Winter geht es um das nackte Überleben der Zivilbevölkerung. Im vergangenen Jahr hat Russland 60 Prozent des ukrainischen Stromnetzes zerstört. Dieses Jahr werden sie versuchen, die restlichen 40 Prozent zu zerstören.“ Er selbst könne bezeugen, wie schlimm es ist, wenn es in einem Wohnhaus mit zwölf oder 13 Stockwerken keinen Strom, keine Heizung und kein Wasser gibt. „Da wird das Leben praktisch unmöglich.“ Daher erwartet Schevtschuk eine Flüchtlingswelle. „Menschen werden nicht nur vor Bombardierungen fliehen, sondern besonders auch vor der Kälte.“

Es sei eine „interessante Tatsache“, dass fast alle katholischen Ostkirchen unter Kriegsbedingungen lebten, so Schevtschuk: in der Ukraine, Armenien, Syrien, im Libanon, im Irak, jetzt im Heiligen Land, in Eritrea. In vielen Ländern gebe es einen „Aderlass“ kirchlichen Lebens auf den ursprünglichen kirchlichen Territorien. Auch die ukrainische Kirche leide unter einer massiven Auswanderung. „Seit Ausbruch des Krieges waren bereits 14 Millionen Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen – ein Drittel der Bevölkerung. Von diesen 14 Millionen haben 6 Millionen die Ukraine verlassen. Die Zurückgebliebenen sind als Binnenflüchtlinge in anderen Teilen des Landes untergekommen“, erläuterte der Geistliche.

Die Bischofssynode seiner Kirche habe im September eine soziologische Studie über die neuen ukrainischen Flüchtlinge in Europa in Auftrag gegeben, um die Lage besser zu verstehen, erklärte Schevtschuk. Der Großteil der ausgewanderten Gläubigen befindet sich demnach hauptsächlich in Polen und Deutschland. Vor dem Krieg habe die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche etwa in Deutschland 200‘000 Gläubige gezählt. Aber laut der jüngsten Studie seien jetzt 1‘200‘000 Ukrainer in Deutschland. Das seien vor allem Frauen mit ihren Kindern. „Männer dürfen bekanntlich die Ukraine nicht verlassen“, so der Geistliche. 50 Prozent der Kinder sind unter 16 Jahre alt. Fast 63 Prozent dieser Frauen haben eine Hochschulausbildung. „Kurz: der best-ausgebildete Teil unserer Gesellschaft lebt nun in Mitteleuropa. Zugleich ist diese Gruppe auch die vulnerabelste.“

Fast die Hälfte derer, die man befragt habe, gehe davon aus, nicht mehr in die Ukraine zurückzukehren. „Der größte Kummer unserer Gläubigen im Ausland ist die Trennung von den Vätern.“ Wenn eines Tages der Krieg zu Ende sei, werde sich die drängende Frage der Familienzusammenführung stellen. „Wir werden die Hilfe und das Verständnis der europäischen Staaten brauchen, um diese zu erleichtern“, so Schevtschuk. „Natürlich werden unter diesen Vätern auch viele an der Front schwer verwundete Männer sein. Das Phänomen des Kriegstraumas, das unser Volk gerade erlebt, wird also früher oder später auch mitten in Europa ankommen.“

Die Traumatisierung sei bei weitem die größte pastorale Herausforderung für die Kirche, so Schevtschuk. „Ein verwundeter Soldat kehrt im besten Fall physisch nach Hause zurück. Auf psychischer Ebene ist es fast unmöglich, aus dem Krieg zurückzukommen.“ Deshalb werde die Seelsorge der Kirche „für Jahrzehnte eine Seelsorge der Heilung von unterschiedlichen Kriegsverwundungen sein“. Schon jetzt habe man eine verpflichtende Ausbildung für alle Priester begonnen, „damit sie gut dafür gerüstet sind, pastoral, aber auch psychologisch und spirituell die Menschen begleiten zu können.“

„Wir hoffen wirklich, dass der Aggressor bald die Angriffe beendet, aber wir müssen ihn alle gemeinsam aufhalten“, so Schevtschuk. Dabei gehe es nicht nur um Waffen. „Es geht um die Wahrheit und um die Prioritäten in Europa als demokratischem Kontinent, für den das menschliche Leben und die Achtung der Würde der menschlichen Person einen der höchsten Werte darstellt“, so Schevtschuk. „Die Menschenwürde ist kein Verhandlungsgegenstand.“ Europa müsse verstehen, „dass jeder Cent, den sie Russland im Austausch für billiges Gas, Öl oder Erdöl geben, in Waffen umgewandelt wird“. Kein System von Sanktionen werde den Krieg stoppen, wenn man die grundlegenden Werte außen vorlasse. Die europäischen Grundwerte müssten im Vordergrund stehen, wenn man über eine Zukunft für die Ukraine, für Russland, aber auch für Europa selbst spreche. „Es ist offensichtlich, dass dieser Krieg katastrophale Zerstörungen verursacht, aber in erster Linie zerstört er den Menschen und die Menschenwürde“, so Großerzbischof Schevtschuk. (Quelle: Katholische Presseagentur Kathpress, www.kathpress.at)