Kann die Geschichte den Konflikt um die ukrainische Autokephalie lösen?
Zentrales Thema des Konflikts ist das kanonische Territorium. Moskau betrachtet die Ukraine als sein kanonisches Territorium und behauptet, dass die Ukrainische Orthodoxe Kirche, die einzige kanonische Kirche des Landes, zu ihm gehört. Konstantinopel hingegen betrachtet sich als Mutterkirche der Orthodoxie in der Ukraine und zeigt sich besorgt um die Einheit des Landes. Wer hat recht?
In diesem Konflikt argumentieren beide Seiten mit der Geschichte. Sie sind sich in einigen Punkten einig: Sie stimmen darin überein, dass die Kiewer Rus’, ein vormodernes Staatsgebilde (eine Art lockerer Verband von Fürstentümern), das Christentum im 10. Jahrhundert von Konstantinopel übernommen hat. Als der politische Kern dieses Gebildes sich ab dem 12. Jahrhundert nach Norden bewegte, behielt der Metropolit den Titel „von Kiew“ und die Abhängigkeit von Konstantinopel bis in die Mitte des 15. Jahrhunderts bei. Nach der Union von Florenz hörten die Metropoliten – nun „von Moskau“ – auf, Konstantinopel um Bestätigung zu bitten.
Es gab weiterhin einen Metropoliten von Kiew, das zu dieser Zeit zum Großfürstentum Litauen gehörte. Nach der politischen Vereinigung Litauens und Polens (1569) verschlechterten sich die Bedingungen für die Orthodoxie in den ukrainisch-weißrussischen Gebieten, und nachdem die Hierarchie eine Union mit Rom (1596) eingegangen war, blieben nur zwei orthodoxe Bischöfe übrig. 1620 wurde ein Metropolit von Kiew in Gemeinschaft mit Konstantinopel eingesetzt. Von da an endet der Konsens zwischen den beiden Patriarchaten.
Als der wachsende russische Staat mit Moskau als Zentrum im 17. Jahrhundert entsprechend dem Vertrag von Andrusovo sein Territorium über Kiew und die heutige Ostukraine ausdehnte, erzielten die beiden Patriarchate ein Abkommen, wonach der Metropolit von Kiew von Moskau ernannt und geweiht würde, aber den Ökumenischen Patriarchen in der Liturgie kommemorieren würde.
Die Tatsache, dass der Ökumenische Patriarch durch die Kiewer Metropoliten nicht (mehr) kommemoriert wurde, kann als Beispiel für die unterschiedliche Interpretation der Dokumente dienen, auf die sich jetzt beide Seiten berufen. Dass die Kiewer Metropoliten schon bald aufhörten, des Patriarchen von Konstantinopel zu gedenken, kann als Missachtung eines Abkommens betrachtet werden, aber auch als Konsequenz und gewissermaßen als Anerkennung dessen, was realistischerweise für sie möglich war. Die Geschichte ist reich an Beispielen für Abkommen oder Artikel aus Abkommen, die schlicht außer Gebrauch kamen.
Im aktuellen Konflikt interpretieren beide Seiten die Dokumente so, dass sie ihren jeweiligen Standpunkt untermauern. Keine Seite zeigt das geringste Verständnis für die Perspektive der anderen. Jede Seite handelt so, als ob die Dokumente eindeutige Beweise lieferten. Aber das tun sie nicht. Die Dokumente sprechen nicht für sich selbst. Sie wurden zu einer bestimmten Zeit, in einem bestimmten Kontext geschrieben und müssen interpretiert werden. Und jede Interpretation geschieht ebenfalls zu einer bestimmten Zeit und in einem bestimmten Kontext. Um sich der früheren Bedeutung von Dokumenten und ihrer möglichen Bedeutung heute anzunähern, ist ein hermeneutischer Zugang nötig. Aber die Geschichte kann nicht beweisen, wer im aktuellen Konflikt recht hat.
Was bedeutet das für die Frage der ukrainischen Autokephalie? In erster Linie kann sie nicht durch Bezugnahme auf die Vergangenheit gelöst werden. Das Hauptproblem ist, dass es keinen Konsens darüber gibt, wie in der Orthodoxie die Autokephalie erlangt werden kann. Es gibt zwei Modelle: erstens, die Mutterkirche ist berechtigt sie zu gewähren, oder zweitens, das Patriarchat von Konstantinopel hat dieses Recht. Die „Große und Heilige Synode“, die 2016 in Kreta stattfand, hat das Thema nicht behandelt, weil sich die Kirchen vor dem Konzil nicht auf einen Entwurf für ein Dokument einigen konnten. Auch Präzedenzfälle sind keine große Hilfe, da bisher in den meisten Fällen Konstantinopel zugleich die Mutterkirche war.
Die ROK hat die gesellschaftliche und kirchliche Situation in der Ukraine völlig falsch eingeschätzt und versteht den großen Wunsch nach einer autokephalen Kirche im Land nicht – ein Wunsch, der auch in der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, also in ihrem eigenen Zweig in der Ukraine, existiert. Aber es ist auch wahr, dass diese Kirche die Autokephalie nicht beantragt hat. Das Ökumenische Patriarchat missachtet diese Tatsache und agiert, als ob es in der Ukraine keine kanonische Kirche gäbe. Es behauptet, sich um die Einheit der Orthodoxie in der Ukraine zu sorgen, aber die Ukrainische Orthodoxe Kirche zu ignorieren straft das Lügen. Beide Seiten ignorieren einander, genauso wie sie die Interpretation der Dokumente durch die andere Seite ignorieren.
Da die ukrainische Regierung all ihre Mittel einsetzt, um die Autokephalie zu erhalten, ist der politische Aspekt in den Vordergrund getreten. Aber Autokephalie ist ein kirchliches Konzept und betrifft Kirchenstrukturen. Mit ihren Bemühungen um eine „ukrainische Nationalkirche“ im Kontext der russischen militärischen Aggression hoffen die politischen Eliten die Unterstützung des Volkes für sich zu gewinnen. Sie vernachlässigen nicht nur, dass die Ukraine ein multi-ethnisches und multi-konfessionelles Land ist, sie greifen auch das Modell einer Staatskirche auf, das in Europa bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblich war. Es gibt aber keine absolute Notwendigkeit einer autokephalen Kirche für einen unabhängigen Staat, wie die antiken Patriarchate zeigen. Hat eine „Nationalkirche“ in einem modernen demokratischen, zum Westen orientierten Staat einen Platz? Und hat sie überhaupt einen Sinn für praktizierende Gläubige?
Um es klar zu sagen: Wir fänden es richtig, wenn die Orthodoxie in der Ukraine autokephal und vereint wäre, und wir denken, dass es letztlich so kommen wird. Eine autokephale ukrainische Kirche könnte in der Orthodoxie eine unabhängige Ortskirche sein, von der neue Impulse für das kirchliche Leben, die Theologie, den ökumenischen Dialog und die Beziehungen zur „Welt“ ausgehen können. Doch der Weg, auf dem die Autokephalie zur Zeit zu erreichen versucht wird – durch politische Kräfte, einseitige Handlungen Konstantinopels, Vorschläge zu einseitigen und diskriminierenden Gesetzen sowie die Verbreitung von falschen und irreführenden Informationen –, ist nicht der richtige.
Dieses Problem berührt viele wichtige Fragen, wie die Tradition, die Idee eines „kanonischen Territoriums“, den Begriff der „Mutterkirche“, die Beziehungen zwischen Staat und Kirche und die panorthodoxe Einheit, die die Orthodoxie alle aufgreifen soll und muss. Aber die Geschichte allein bietet keine Lösung für die ukrainische Frage.
Thomas Bremer, Professor für Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität.
Sophia Senyk hat viele Jahre Geschichte der Kirche in der Rus’ am Päpstlichen Orientalischen Institut in Rom unterrichtet und lebt nun als orthodoxe Nonne im Kloster von Bose in Italien.
Dieser leicht überarbeitete Beitrag erschien zuerst auf Englisch am 12. Oktober auf Public Orthodoxy. Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.
Bild: Die Taufe der Rus' von Viktor Michajlovitsch Vasnezov (1885-1896).