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Die russische Kirche verliert die Ukraine

06. September 2018
Sergej Chapnin

3. September 2018, www.snob.ru

Die Forderung nach Autokephalie für die Ukrainische Kirche erklang bereits vor fast hundert Jahren, und seither ist die Frage immer wieder gestellt worden. Doch die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) hat sie nie ernsthaft erörtert, nicht einmal während der letzten drei Jahrzehnte, als neben der kanonischen Kirche in der Ukraine noch zwei von ihr abgespaltene Jurisdiktionen entstanden sind. Bis Mitte 2018 hat sich nun eine neue Lage entwickelt: Die vollkommene Passivität der ROK in dieser Frage hat dazu geführt, dass der Ökumenische Patriarch Bartholomaios seine direkte Beteiligung angekündigt hat.

Die ROK verliert die Ukraine, und für Patriarch Kirill (Gundjajev) ist die Zeit entschiedenen Handelns gekommen, weil das Schicksal der ukrainischen Autokephalie sich heute nicht in Moskau entscheidet, sondern in Istanbul. Nur so kann man den unerwarteten Entschluss von Patriarch Kirill erklären, ganz ohne Pathos und feierliches Zeremoniell zu einem Treffen mit Patriarch Bartholomaios zu fliegen und mit ihm Arbeitsverhandlungen zu führen.

Offensichtlich, so überlegten sich Experten, demonstriert Patriarch Kirill Dialogbereitschaft, und er hat Vorschläge, die den Patriarchen Bartholomaios interessieren werden. Doch für eine freundschaftliche Begegnung und ein vertrauensvolles Gespräch ist der Zeitpunkt denkbar ungünstig. Patriarch Kirill ist schon seit zwei Jahren beleidigt, weil Patriarch Bartholomaios ihn nicht angehört und 2016 keine Zusatzkonferenz vor dem Panorthodoxen Konzil auf Kreta durchgeführt hat, auf der Kirill bestanden hatte. Aber auch Patriarch Bartholomaios ist schwer beleidigt, weil Kirill fest versprochen hatte, am Panorthodoxen Konzil teilzunehmen und sogar selbst den Durchführungsort ausgewählt, aber schließlich seine Teilnahme buchstäblich zwei Wochen vor Beginn abgesagt hatte. Seither sind sich die Patriarchen nicht mehr begegnet, auch wenn sie Botschaften ausgetauscht haben.

An dieser Stelle muss der jahrhundertealte Wettbewerb der Patriarchate um die informelle Führung in der orthodoxen Welt erwähnt werden. Die Position des Moskauer Patriarchats war zu Beginn des 21. Jahrhunderts ziemlich stark – eine stetig wachsende Kirche, hohe Ölpreise, die starke Position Russlands in Europa. Doch nach 2014 änderte sich die Situation drastisch. Die politischen und ökonomischen Probleme Russlands trafen wie ein Bumerang auch die ROK und Patriarch Kirill persönlich. Der Wunsch, mit der ROK zusammenzuarbeiten und ihre Position anzuhören, ist bei den anderen Lokalkirchen bedeutend kleiner geworden als in den Jahren zuvor. Doch Patriarch Kirill denkt immer noch in imperialen Maßstäben über die ROK – als größte und reichste Kirche in der orthodoxen Welt, die es gewohnt ist, allen anderen ihre Bedingungen zu diktieren.

Angesichts dieser Situation wirkt der Besuch von Patriarch Kirill in der Residenz von Patriarch Bartholomaios im Istanbuler Phanar wie eine Anerkennung der eigenen Schwäche. Er kommt als Bittsteller. Und sein Aktionsplan sollte mehrere Entwicklungsvarianten umfassen. Unter anderem muss er auch zu einer vollständigen Niederlage bereit sein. Mir sind risikofreudige Menschen sympathisch, doch die Vorstellung, dass Patriarch Kirill zu ihnen gehört, fällt mir schwer. Am Vorabend des Besuchs habe ich mir aber gedacht, dass man immer besser über die Menschen denken sollte.

Zurück zu den möglichen Entwicklungsvarianten:

Erste Variante: Patriarch Bartholomaios nimmt eine weiche Position ein. So könnte man versuchen eine Vereinbarung darüber zu finden, dass die Patriarchen die Autokephalie gemeinsam verleihen. Ein solcher Zugang diente der Lösung innerer Probleme in der Ukraine, weil er die Spannung zwischen den Befürwortern der Autokephalie (in bedeutendem Maße der gemäßigten ukrainischen Nationalisten) und ihren Gegnern (die beim Moskauer Patriarchat bleiben wollen) lösen könnte. In dieser Situation wäre es recht einfach, in der Frage der Schaffungen von Eparchien oder sogar über die Schaffung eines Metropolitankreises der ROK in der Ukraine eine Einigung zu finden, sobald der größte Teil der Gemeinden und Klöster sich der neuen autokephalen Kirche anschließt. Doch leider ist diese Variante fast fantastisch, weil beide Patriarchen dabei freiwillig ihre eigene Macht beschränken, und die Interessen der Kirche in der Ukraine höher als ihre Machtambitionen stellen müssten. Nichtsdestotrotz sollte man diese Variante bis zum Besuch im Phanar nicht ausschließen.

Zweite Variante: Patriarch Bartholomaios verhält sich vorsichtig und lässt sich nicht in die Karten blicken. In dieser Situation ist die Fortführung eines Dialogs möglich, weil endgültige Entscheidungen offenbar noch nicht gefallen sind, und falls sie gefallen wären, könnte man sie noch korrigieren. Es ist eine Frage der Kirchendiplomatie und vor allem der Bereitschaft zur Suche nach Kompromissen. Umso mehr, weil es keine Deadline bezüglich der Entscheidung über die Autokephalie gibt. Es gibt nur den Wunsch des Präsidenten der Ukraine, Petro Poroschenko, dass sich das bis Ende Jahr entscheiden möge – damit er dieses Argument in seiner Wahlkampagne nutzen kann.

Dritte Variante: Patriarch Bartholomaios nimmt eine harte Position ein. Er lehnt alle Vorschläge von Patriarch Kirill ab, eine Kompromisssuche ist unmöglich, weil die Frage der Verleihung der Autokephalie an die Ukraine bereits entschieden ist und es aus Sicht des Phanars schlicht nichts mehr zu erörtern gibt. Nur der Patriarch von Konstantinopel verfügt über das Recht der Verleihung der Autokephalie, und es ist das wichtigste Instrument der Bestätigung seiner Vorrangstellung in der orthodoxen Welt.

Doch angesichts der Tatsache, dass es keine Schlusserklärung gab und die ROK sich mit Kommentaren auffallend zurückhält, ist wohl alles anders gekommen. Ein klares Handlungsprogramm und irgendwelche interessanten Vorschläge hat Patriarch Kirill nicht vorgebracht. Vielleicht dachte er, er halte starke Trümpfe in der Hand: a) die Unterstützung einer ganzen Reihe von orthodoxen Lokalkirchen, die der kirchliche Hauptdiplomat, Metropolit Ilarion (Alfejev), im Frühling alle besucht hat; und b) das Hauptargument gegen die Autokephalie: die Mehrheit der Orthodoxen der kanonischen Kirche wünscht sie nicht.

Doch Patriarch Bartholomaios hat die letzten Illusionen Kirills zerschlagen. Der Phanar hat ebenfalls Konsultationen mit allen lokalen Kirchen durchgeführt, und wie Metropolit Elpidophor (Lambriniadis) zuvor bemerkte, wird die Position der ROK im Phanar extrem hart beurteilt: als „Verbreitung von Desinformationen und von in die Irre führenden Nachrichten“. Die lokalen Kirchen sind mit der Position des Phanars einverstanden und unterstützen sie.

Das bedeutet, dass die Isolation der ROK in der orthodoxen Welt wächst, und darauf hat Patriarch Bartholomaios Kirill diplomatisch hingewiesen. Ich fürchte, dass dies für Patriarch Kirill völlig unerwartet war. Sein Umfeld hat ihm nichts Derartiges vorgelegt.

Was die Stimmung der Mehrheit bezüglich der Autokephalie in der Ukraine angeht, so gibt es weder soziologische noch sonst irgendwelche überzeugenden Daten. Hier stehen der Manipulation alle Türen und Tore offen – Beweise kann Patriarch Kirill keine vorweisen.

Ich neige zur Meinung, dass Patriarch Kirill schlicht keinen ernsthaften Plan hatte. Er reiste mit einem einzigen Ziel nach Istanbul: Patriarch Bartholomaios davon zu überzeugen, die Verleihung der Autokephalie an die Ukraine zu unterlassen. Damit hängt auch zusammen, dass Kirill sogar nur einen einzigen Vorschlag hatte: eine internationale Konferenz über die Probleme des kanonischen Status der Ukraine durchzuführen, an der historische Dokumente vorgestellt und erörtert werden sollen. Die Hoffnung Moskaus ist ziemlich einfach: Die Haltlosigkeit des Anspruchs des Patriarchats von Konstantinopel auf die Ukraine zu beweisen. In der jetzigen Situation ist das ein schwacher, fast hilfloser Schachzug. Erstens gibt es in der Orthodoxen Kirche keinen einheitlichen Korpus kanonischen Rechts – ein und dieselben Kanones werden in den verschiedenen Kirchen unterschiedlich verstanden und behandelt. Zweitens gibt es in Russland keine ernsthaften Spezialisten zu kanonischem Recht, nur Historiker. Im Patriarchat von Konstantinopel hingegen gibt es sowohl Kirchenrechtler als auch Kirchenrechtshistoriker. Schließlich hätte man drittens, und das ist die Hauptsache, eine solche Konferenz vor zehn oder zwanzig Jahren durchführen müssen. Heute, da die prinzipiellen Entscheidungen gefällt und der Tomos (Erlass) zur Verleihung der Autokephalie bereits geschrieben ist, ergibt die Erörterung von Archivdokumenten nicht mehr viel Sinn. Geht es um praktische Fragen, dann besteht das Hauptproblem im Mechanismus, eine neue autokephale Kirche zu schaffen, in die nicht nur Gemeinden der kanonischen, sondern auch der abgespaltenen Jurisdiktionen eingehen sollen.

Die Schlussfolgerungen sind für die ROK und Patriarch Kirill äußerst unerfreulich. Die Ereignisse haben sich de facto gemäß dem dritten Szenario entwickelt. Bartholomaios hat Kirill direkt gesagt, dass der Tomos über die Autokephalie in nächster Zeit unterzeichnet wird. Die Entscheidung ist gefällt und wird nicht nochmal revidiert. Die ROK spielt in dieser Konfiguration keine Rolle.

Doch es bleibt spannend. Am Abend des 31. August hat Metropolit Ilarion (Alfejev) angedeutet, dass es gewisse Vereinbarungen gebe, die noch nicht verkündet, aber bekannt gegeben werden, sobald die Synoden der Kirche die Entschlüsse bestätigen.

Sergej Chapnin, ehemaliger Hauptredakteur des „Journals des Moskauer Patriarchats“.

Der Kommentar ist zuerst am 3. September 2018 auf Russisch auf www.snob.ru erschienen. Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen.

Bild: Patriarchal Press Service of the Russian Orthodox Church.