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Die Ukrainische Orthodoxe Kirche – vor dem Verbot?

06. November 2025

Thomas Bremer

Anfang November veröffentlichte die Europäische Kommission den jährlichen Fortschrittsbericht über die EU-Beitrittskandidaten. Im Bericht über die Ukraine werden die Bemühungen des vom russischen Angriffskrieg erschütterten Lands gewürdigt, die Bedingungen für den EU-Beitritt rasch zu erfüllen. Kritisch angemerkt wird jedoch: „Die Ukraine muss sicherstellen, dass die Umsetzung des Gesetzes über Religionsgemeinschaften, das die Aktivitäten von Religionsgemeinschaften in der Ukraine verbietet, die mit der Russischen Orthodoxen Kirche in der Ukraine affiliiert sind, etwa bezüglich der Metropolie von Kyjiw, in Übereinstimmung mit den internationalen Standards über Religions- oder Glaubensfreiheit bleibt, einschließlich der Rechtsprechung des EGMR in diesem Bereich, besonders auf lokaler und regionaler Ebene.“ (S. 42)

Es ist bemerkenswert, dass die Kommission in ihrem Bericht so deutlich Bezug auf ein konkretes Gesetz nimmt, nämlich das Gesetz 3894-IX mit der Bezeichnung „Über den Schutz der Verfassungsordnung auf dem Gebiet der Aktivitäten von Religionsgemeinschaften“. In der Zeit seiner Entstehung wurde der Entwurf zumeist „Gesetz zum Verbot der Ukrainischen Orthodoxen Kirche“ genannt. Tatsächlich hat sich die Lage der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) erheblich verschärft, seitdem das Gesetz im September 2024, einen Monat nach der Unterzeichnung durch den ukrainischen Präsidenten, in Kraft getreten ist.

Die staatliche Haltung zur UOK
Bereits seit der Gründung der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) 2018 und der Gewährung der Autokephalie durch das Ökumenische Patriarchat 2019 gab es staatliche Bemühungen, die OKU zu fördern und die UOK zurückzudrängen. Nach dem russischen Angriff 2022 haben diese Bemühungen noch zugenommen. Die UOK hat sich im Mai 2022 von der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK), zu der sie bislang gehörte, losgesagt, was allerdings von den Behörden nicht anerkannt wird. Der Konflikt zwischen beiden Seiten dreht sich also um die Frage, ob die UOK noch Teil der ROK ist. Die Kirche bestreitet das, die Behörden aber behaupten es und versuchen daher, die Kirche entsprechend dem Gesetz 3894-IX gerichtlich verbieten zu lassen.

Das Gesetz ermöglicht es der staatlichen Religionsbehörde, dem Staatsdienst für Ethnopolitik und Gewissensfreiheit der Ukraine (DESS), die „Affiliation“ einer Religionsgemeinschaft zur ROK untersuchen zu lassen und bei einem positiven Ergebnis ein gerichtliches Verbot zu beantragen. Da alle Gemeinden und Institutionen der UOK einzeln registriert sind, hat der DESS zunächst durch eine von ihm selbst eingesetzte Kommission ein internes Gutachten über die Affiliation der Metropolie von Kyjiw, also der Hauptverwaltung der UOK, anfertigen lassen, das die Zugehörigkeit der Kirche zur ROK bestätigte. Die Behörde forderte die Kirche auf, diesen Zustand zu ändern, worauf Metropolit Onufrij (Berezovskij), das Oberhaupt der UOK, brieflich das Ansinnen des Staates als unzutreffend abwies. Daraufhin beantragte die Behörde das Verbot. Nach dem Gesetz hätte das Gericht innerhalb von 30 Tagen entscheiden müssen. Die Sitzung wurde für den 30. September, kurz vor Ablauf der Frist, terminiert. Doch als ein Richter kurzfristig erkrankte, wurde das Verfahren um vier Wochen verschoben, dann erneut auf Mitte Dezember, so dass die gesetzliche Frist nicht mehr eingehalten werden kann.

Es ist offensichtlich, dass die Behörden, insbesondere der DESS unter seinem Leiter Viktor Yelenskyj, ein Verbot erreichen wollen. Zeitgleich mit dem Verbotsantrag wurde eine Liste von mehr als 100 Institutionen veröffentlicht, die ihrerseits mit der Metropolie affiliiert sind – alle Eparchien der UOK sowie zahlreiche Klöster und theologische Ausbildungsstätten. Damit soll sichergestellt werden, dass auch sie verboten und ihr Besitz konfisziert werden kann. Die UOK wehrt sich mit juristischen Mitteln gegen das Vorgehen des DESS, worauf Yelenskyj ihr Verzögerungstaktik und einen Missbrauch juristischer Prozeduren vorwarf.

Neben diesen Bemühungen um ein Verbot der gesamten Kirche sind zahlreiche Manöver gegen die UOK auf lokaler und regionaler Ebene zu verzeichnen, wie es auch im Fortschrittsbericht der Europäischen Kommission erwähnt wird. Hier sind die Transfers von Gemeinden der UOK zur OKU zu nennen, die zuweilen mit Gewalt und offensichtlich gegen die Gesetzeslage durchgeführt werden, ohne dass die Behörden eingeschritten sind. Lokale Politiker haben angekündigt, dass sie die Tätigkeit der UOK in ihrem Ort beenden wollen, und es gibt entsprechende Entscheidungen lokaler Parlamente, die zwar gegen die Verfassung verstoßen (weil Gemeinderäte keine Kompetenz in Fragen des Religionsrechts haben), aber nicht geahndet oder zurückgenommen werden. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU und lokale Anklagebehörden gehen gegen einzelne Vertreter der Kirche in einer Weise vor, die man nicht anders als willkürlich nennen kann, wie es der Fall des Metropoliten Arsenij (Jakovenko) von Svjatohirsk zeigt, der nach anderthalb Jahren in Untersuchungshaft aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands gegen Kaution entlassen, aber sofort aufgrund neuer Anschuldigungen wieder in Haft genommen wurde. Und die geringste Kritik an der OKU wird als „Aufstachelung zu religiösem Hass“ verfolgt, während analoge Aussagen von Vertretern der OKU unbelangt bleiben.

Aufgeheizte gesellschaftliche Debatte
Die Situation der UOK wird nicht nur von der Politik beeinflusst, sondern auch von ihren eigenen Mitgliedern. Seit 2019 haben sich viele Gläubige von der Kirche abgewandt, weil es jetzt in Form der OKU eine kanonische Alternative gab, die nicht zur russischen Kirche gehörte. Nach dem russischen Großangriff hat sich diese Tendenz nochmals verstärkt. Interessant ist die Beobachtung, dass häufig die Mehrheit einer Gemeinde zur OKU übertreten will und diesen Übertritt auch vollzieht, während der Priester mit einer Minderheit bei der UOK verbleiben will. Somit vermindert sich die Zahl der UOK-Gemeinden kaum, wohl aber die der Gläubigen. Häufig ergeben sich dann Streitigkeiten um das Kirchengebäude.

All das findet in einem aufgeheizten gesellschaftlichen Klima statt. Dazu hat auch beigetragen, dass die UOK medial an den Pranger gestellt wurde. So wird sie nur selten mit ihrem richtigen Namen genannt, sondern als „ROK in der Ukraine“ oder als „UOK des Moskauer Patriarchats“ bezeichnet. Seit dem russischen Angriff gibt es faktisch nur noch ein zentrales, vom Staat gesteuertes Fernsehnachrichtenprogramm, in dem die Vertreter der UOK so gut wie nie zu Wort kommen. Lediglich einige wenige Internet-Kanäle versuchen ein ausgewogeneres Bild über die kirchliche Situation zu vermitteln.

Bemerkenswert ist im Kontext der Bemühungen, die OKU zu stärken, der Kommentar der Religionswissenschaftlerin Liudmyla Fylypovych, die vor einigen Wochen darauf hinwies, dass man das sowjetische System nicht nur negativ sehen dürfe, sondern durchaus seine Methoden nutzen solle. Damals habe es ein „äußerst wirksames System der Einflussnahme auf das Bewusstsein der Menschen“ gegeben. „Diese Mechanismen muss man wieder ins Arsenal aufnehmen, sie aber mit unseren Ideen füllen.“

Innere Spaltung der UOK
Wie verhält sich die UOK selbst zu diesen Entwicklungen? Wie angedeutet, versucht sie sich juristisch gegen die Maßnahmen zu wehren. Darüber hinaus erstaunt die Passivität, mit der die Kirche reagiert und die wohl Folge ihrer inneren Spaltung ist. Wie NÖK berichtet hat, ist zwischen Bischöfen der UOK eine heftige Diskussion über die Frage nach einer Autokephalie der UOK entbrannt, die diametral entgegengesetzte Positionen deutlich gemacht hat. Metropolit Onufrij gelingt es offenbar nicht, zwischen den weit auseinanderliegenden Positionen zu vermitteln. Seine seltenen Äußerungen zum Thema bleiben im Unbestimmten und verweisen auf die Zeit nach Ende des Krieges – auf eine weitergehende Position kann sich die Kirche nicht einigen. Das lässt aber den nachvollziehbaren Vorwurf aufkommen, dass die Kirchenleitung sich für jeden möglichen Ausgang des Krieges eine Tür offenhalten will.

Die Führungsschwäche zeigt sich auch darin, dass ein Dialog mit dem DESS faktisch unmöglich geworden ist. Die Verantwortung dafür ist wohl bei beiden zu suchen, aber es ist klar, dass der DESS am längeren Hebel sitzt. Auch hätten einige wenige Gesten das Ansehen der UOK in der Öffentlichkeit sehr einfach steigern können. So blieb die Kirchenführung stumm gegenüber den Aktionen der ROK in den besetzten Gebieten der Ukraine, war aber schnell zur Hand, kritische Priester zu disziplinieren. Eine solche Haltung hat in großem Maße dazu beigetragen, dass ihr Renommee im Land weiter gesunken ist.

Zugleich geht das kirchliche Leben weiter. In Tausenden von Gemeinden der UOK versammeln sich Gläubige zum Gebet. Viele Priester und Pfarreien engagieren sich in der Unterstützung der ukrainischen Armee, durch Sammlungen, Blutspenden und andere Maßnahmen. Offiziell dürfen Priester der UOK keine Militärseelsorger sein, doch viele verpflichten sich etwa als Sanitäter oder als Fahrer, um so an die Front zu kommen und Seelsorge leisten zu können. Zugleich gibt es in der UOK aber auch Bischöfe, Priester und Gläubige, die eine Zukunft für ihre Kirche nur in Gemeinschaft mit der russischen Orthodoxie sehen – auch wenn das eine relativ kleine Gruppe ist, so ist es doch ein Zeichen für die Zerrissenheit der Kirche.

Perspektiven
Es ist davon auszugehen, dass die UOK tatsächlich verboten wird. Ob es, wie von den Behörden erhofft, tatsächlich zu einer Stärkung der OKU kommt, ist eine offene Frage. Viele Gemeinden der UOK, die nach der offiziellen Zahl der Gemeinden immer noch die größte Religionsgemeinschaft im Land ist, werden versuchen, ihr Leben im Untergrund oder in einer Semilegalität zu organisieren. Die seit Jahren anhaltende Spaltung der Weltorthodoxie wird sich vertiefen. Gemeinden der UOK, die vor europäischen Gerichten klagen, werden vermutlich in einzelnen Fällen Recht bekommen, wie es jetzt schon der Fall ist, doch wird das kaum mehr etwas an den Verhältnissen vor Ort ändern.

Sollte das Verbot kommen, ist es nach Ansicht vieler Juristen ein klarer Verstoß gegen die Religionsfreiheit. Die Tatsache, dass die Europäische Kommission das Thema in ihren Fortschrittsbericht aufgenommen hat, und dass auch der Hochkommissar für Menschenrechte der UNO in seinen Berichten immer wieder kritisch darauf hinweist, zeigt, dass internationale Gremien die Situation durchaus kritisch beobachten. Doch wurde dem Autor dieser Zeilen von einem politisch Verantwortlichen gesagt, die Ukraine habe jetzt andere Probleme als die Beachtung der Religionsfreiheit. Es ist eine gefährliche Position, Grundrechte aufgrund der Kriegssituation und mit zweifelhaften Argumenten einzuschränken. Den größten Schaden könnte auf Dauer die Ukraine selbst davontragen, die unsere uneingeschränkte Unterstützung – und das bedeutet auch: kritische Begleitung – verdient.

Thomas Bremer war von 1999 bis 2022 Professor für Ökumenik, Ostkirchenkunde und Friedensforschung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Münster.

Bild: Text des Gesetzes 3894-IX (Foto: Screenshot zakon.rada.gov.ua)