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Butscha. Wo war Gott?

08. April 2022

Georgiy Kovalenko

Ehre sei Jesus Christus!

Ehre sei der Ukraine!

Nach den Bildern aus Butscha fragen sich mir nahestehende Personen: Wo war Gott? Warum hat Gott dem nicht Einhalt geboten? Wie konnte er es zulassen? Es ist sehr schwierig diese Frage zu beantworten, weil Worte dafür nicht ausreichen. Heute sagte mir ein Freund, der Priester ist: „In diesem Moment schweigt man lieber.“ In diesem Moment zeigt man lieber Mitgefühl, steht man diesen Personen zur Seite. In diesem Stadium weint man lieber mit ihnen und stellt sich dieselben Fragen. Denn es sind die Fragen, die David sich gestellt hat. Wenn Du heute das Buch der Psalmen öffnest, hörst Du denselben Schrei, denselben Schmerz, dieselbe Frage. Wenn Du das Buch Hiobs öffnest, siehst Du dasselbe, Du siehst dasselbe Thema, und das spricht auch heute zu uns. Doch die Tatsache, dass ich mich an diese Texte halte, vermindert den Schmerz nicht. Ich werde also nicht versuchen, auf diese Fragen, diesen Aufschrei, diesen Schmerz und das Weinen unserer Frauen eine Antwort zu geben, aber ich werde versuchen, für mich selbst zu bestimmen, an welchen Gott ich glaube. Wer ist dieser Gott? Warum geschieht all das jetzt auf diese Weise? Paradoxerweise finde ich in meinem eigenen Glaubensbekenntnis eine Antwort.

Ich glaube an einen Gott, der Mensch geworden ist wie alle anderen. Schon als Neugeborener sollte er getötet werden. Mit seiner Familie wurde er zum Flüchtling. Während er mit seiner Familie flüchtete, wurden an dem Ort, den er verlassen hatte, zahlreiche Neugeborene getötet, weil man Ihn töten wollte. Später kam Christus zu den Menschen und predigte zu ihnen; er rief sie dazu auf, dem Gesetz Gottes zu folgen und lehrte sie, wie man das macht. Doch was haben diese Menschen getan, die von Gott auserwählten Menschen getan? Sie haben Ihn verraten, gefangen genommen, gefesselt, gefoltert und schließlich ans Kreuz geschlagen, worauf er starb.

Ich glaube an einen Gott, der am Kreuz gestorben ist. Das ist eine Realität. Das ist dieselbe Realität wie die Toten in Butscha, Mariupol und in anderen Städten. Weil Gott dort gestorben ist. Gott ist in Butscha und Mariupol gestorben, wie damals am Kreuz. Denn damals ist Gott Mensch geworden, und daraufhin wurde die Menschheit Gottes zur Kirche. Ich glaube, dass Gott heute mit den Menschen identisch ist, die seinen Leib repräsentieren, die an Ihn glauben, die nichts Böses tun, die leiden, die getötet werden. Er hat selbst all das durchlebt und erlebt diesen Schmerz auch jetzt. Auch seine Mutter flüchtete, weil sie ihr Kind in Sicherheit bringen wollte. Später hat sie gesehen, wie ihr Sohn gekreuzigt wurde, wie er am Kreuz starb, wie sie ihn vom Kreuz genommen haben. Die Mutter Gottes versteht die Mütter besser als ich, deren Schmerz jetzt untröstlich ist.

Aber warum hat Gott dem nicht Einhalt geboten? Eben deshalb, weil es derselbe Gott ist, der den Menschen in Freiheit geschaffen hat, um eine Wahl zwischen Gut und Böse zu treffen. Er ist derjenige Gott, der dem Menschen diese Möglichkeit gegeben hat. Er ist kein Architekt, der eine Maschine mit einem einzigen Räderwerk gebaut hat. Er ist kein Mechanismus, der alles kontrolliert, alles weiß, der alles von Anfang bis Ende durchkalkuliert hat und im Voraus weiß, was geschehen wird. Ich glaube, dass wir es sind, die wählen, was kommen wird. Gott kennt eine Vielheit an möglichen Optionen, aber wir sind es, die Wahlen treffen. Entsprechend dieser Wahl wird das Gute fortwährend das Böse bekämpfen und besiegen.

Denn Gott ist das Leben. Und das Leben geht, was auch immer geschieht, weiter. Weil es Liebe ist. Weil die Liebe gewinnt. Gott hilft unseren Verteidigern, denn Butscha, Irpin, Hostomel, Tschernihiv und Konotop sind jetzt befreit. Einerseits nehmen wir das wie ein Wunder wahr, doch andererseits verstehen wir auch, dass hinter diesem Wunder die Anstrengungen der ukrainischen Streitkräfte stehen, unserer Verteidiger, unserer Schutzengel. Gott ist mit ihnen und steht jetzt auf ihrer Seite. Denn sie schützen das Gute vor dem Bösen, das Leben vor dem Tod. Ich glaube, dass diese Städte auferstehen werden, dass die Erinnerung an diese Menschen, die nun bei Gott sind, und die nicht nur gestorben, sondern auch zur Auferstehung gerufen sind, bestehen bleibt. Ich glaube auch an die Auferstehung Christi. Gott ist nicht nur tot, er hat den Tod auch überwunden. Er ist von den Toten auferstanden. Das bedeutet, dass das Leben siegt, dass die Liebe siegt. Wir werden leben, das Gute tun, das Zerstörte mit unseren eigenen Händen und mit Gottes Hilfe wieder aufbauen. Denn was hier geschieht ist ein gottmenschlicher Prozess. Gott und die Menschheit kooperieren, arbeiten bei der Schöpfung zusammen, erfüllen die Welt mit Leben und Liebe. Das Böse setzt sich dem entgegen, versucht alles zu zerstören, zu vernichten, zu töten, doch das Gute wird mit Bestimmtheit siegen.

Heute habe ich eine Nachricht meiner Freundin gelesen, in der sie schreibt, dass es keinen Gott gibt. In einer gewissen Weise bin ich bereit, mit ihr einverstanden zu sein. Denn dieses Gefühl der Gottverlassenheit ist natürlich. Auch dieses Gefühl wird in der Heiligen Schrift beschrieben. Wenn wir das Buch Hiobs lesen, geht es genau darum. Wenn wir die Psalmen lesen, geht es in den Aufschreien Davids, in denen er sich mit seinen Forderungen an Gott wendet, genau darum. Er appelliert an die Vernichtung seiner Feinde, die ihn von allen Seiten angreifen. Er schreit nach Schutz und versteht nicht, warum er verlassen wurde, warum Gott nicht da ist, warum er nichts tut. Christus selbst wendet sich in den letzten Augenblicken seines Lebens am Kreuz an Gott, seinen Vater, mit den Worten: „Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Gott selbst hat Gottverlassenheit erfahren. Es ist also eine natürliche Reaktion unseres Volkes, diese Fragen zu stellen und solch harte Aussagen zu machen. Es werden nicht Worte sein, die uns überzeugen werden, sondern die Tatsache, dass wir auch in Zukunft leben, uns lieben, uns unterstützen und füreinander beten werden. Wir glauben an einen Gott, der unter uns ist, der in uns ist, der mit uns ist, der der Gott der Liebe ist, der der Gott des Opfers ist. Unser Gott ist mit uns. Er ist mit uns, selbst wenn es uns scheint, dass er uns verlassen hat.

Georgiy Kovalenko, Rektor der Offenen Orthodoxen Hl. Sophia-Universität

Aus dem Französischen übersetzt von Regula Zwahlen. Der Originaltext erschien am 5. April 2022 auf Ukrainisch und wurde von Anna Struve ins Französische übersetzt.