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Coping with Change

Sebastian Rimestad, Vasilios N. Makrides (eds)

Coping with Change
Orthodox Christian Dynamics between Tradition, Innovation, and Realpolitik
Erfurter Studien zur Kulturgeschichte des orthodoxen Christentums Bd. 18
Berlin: Peter Lang Verlag 2020, 266 S.
ISBN 978-3-631-71026-5. € 69.95; CHF 77.00.

 

Der Sammelband beleuchtet in zehn Fallstudien das Spannungsfeld von Orthodoxie und Moderne. Das Spannungsfeld entsteht, indem viele als Anpassung an die Erfordernisse der jeweiligen Zeit eingeführten Neuerungen (wie u.a. der Nationalismus der einzelnen autokephalen Kirchen) als Tradition gehandelt werden, während das Konzept der Neuerungen an sich negativ konnotiert, externalisiert und auf heterodoxe, vor allem auf die Westchristen bzw. auf „den Westen“ projiziert wird. Ein solcher Umgang mit dem gesellschaftlichen Wandel erweist sich als folgenreich und erfolgreich und trägt zur Attraktivität der Orthodoxie insbesondere bei Konvertiten bei, was im Konkurrenzumfeld der westlichen, etwa der US-amerikanischen Diaspora sichtbar wird. So nimmt etwa die Griechische Orthodoxe Erzdiözese von Amerika im Zuge der Entfaltung von fundamentalistischen Elementen selbst Schaden an Gemeindestrukturen und den Abfall von Mitgliedern in Kauf, denen solche Entwicklungen nicht geheuer sind, wie der erste Beitrag von Frances Kostarelos zeigt. Die Verschränkung von religiöser und nationaler Identität bewirkt jedoch, dass selbst Mitglieder, welche ihre Aktivitäten in der Kirche aufgrund von deren antimodernen Praktiken einstellen, manchmal selbst nach einigen Jahrzehnten der Entfremdung zurückfinden und sich mit den Zuständen abfinden. Das bedeutet keinesfalls, dass solche Gläubige die eigene liberale Agenda aufgeben, wie Anna Karpathakis am Beispiel griechischer und griechisch-stämmiger Frauen in den USA aufzeigt.

Im Beitrag von Oleg Kyselov stehen nicht nur die religiöse Selbstidentifizierung der ukrainischen Bevölkerung, sondern auch die ukrainischen orthodoxen kirchlichen Körperschaften als Organisationen im Fokus. Die Einsicht des Autors, dass eine marginalisierte Religionsgemeinschaft gesellschaftlichen Wandel unterstützen wird, wenn sich daraus eine Besserung ihrer gesellschaftlichen Stellung ergeben könnte, eine privilegierte Religionsgemeinschaft aber eher in eine Bewahrerrolle schlüpft, hilft nicht nur die Entwicklungen in der Ukraine zu erklären. Angebliche unerfüllte Pläne des später gestürzten ukrainischen Präsidenten Janukowytsch, das Kiewer Patriarchat abzuschaffen, werden jedoch ohne Belege als ein Fakt dargestellt und sind zu hinterfragen.

Daniel Jianus Beitrag zum symphonischen Säkularismus steht zu Beginn des Buchteils „Politics“. Im Mittelpunkt steht dabei Griechenland, aber Jianu schließt die anderen orthodox geprägten Länder nicht aus. Er stellt fest, dass diese Länder weder säkular noch religiös sind, weil die Moderne kein natürliches Produkt der orthodoxen historischen Tradition ist, das Konzept der Symphonie von Kirche und Staat aber das gemeinsame historische Erbe der orthodox geprägten Länder darstellt. In Südosteuropa gilt das darüber hinaus auch für das osmanische Millet-System, das gewissermaßen ein Fortbestehen des byzantinischen Reiches als Staat im Staate gewährleistete. Zentral für die fortbestehende politische Rolle der griechischen Kirche ist deren öffentliche Wahrnehmung als Retterin der nationalen Identität, gleiches gilt für die anderen orthodoxen Kirchen Südosteuropas.

Die Griechische Orthodoxe Kirche steht auch im Beitrag von Georgios E. Trantas im Fokus. Er konstatiert, dass die Anpassung an geänderte Umstände für jede Organisation überlebenswichtig ist, selbst für die Griechische Orthodoxe Kirche, die von einer idealisierten Vergangenheit zehrt. Die grundlegenden Änderungen in der kirchlichen Außen- und Innenpolitik unter der Leitung ihrer beiden letzten Vorsteher erklärt der Verfasser vor allem durch den menschlichen Faktor bzw. durch das jeweilige persönliche Programm der beiden Kirchenmänner.

Dem Konzept des symphonischen Säkularismus von Jianu kann die symphonische Demokratie von Dragan Šljivić gegenübergestellt werden. In seinem Beitrag geht es um die Vereinbarkeit von Demokratie und christlicher Orthodoxie am Beispiel der Serbischen und Bulgarischen Orthodoxen Kirchen bzw. des serbischen und bulgarischen Staates. Sowohl Serbien als auch Bulgarien gelten heute als relativ freie und demokratische Länder; die politischen Systeme werden größtenteils auch durch die Rhetoriken der jeweiligen orthodoxen Lokalkirchen gestützt. Und doch handelt es sich um „symphonische Demokratien“ und gar um einen symphonischen Säkularismus entsprechend dem geschichtlich bedingten byzantinischen und nicht minder osmanischen „symphonischen Reflex“ der beiden Gemeinwesen. Die konkrete politische Manifestation davon ist ein staatlich angestrebtes multikulturelles Model der Gesellschaft mit Unterstützung traditioneller Religionsgemeinschaften als alleinigen Nutznießer der erklärten Religionsfreiheit mit dem Ziel eines lenkbaren Pluralismus – zuungunsten jener Gemeinschaften und vor allem Individuen, die nicht zu den staatlich Begünstigten zählen.

Nicholas Kazarian untersucht die Machterhaltungsstrategien des Ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel. Dem Verlust von kanonischem Territorium wird die Pflege der Autorität über die Diaspora, unter anderem aufgrund der Behauptung des Vorsitzes von den lokalen orthodoxen Bischofskonferenzen durch das Ökumenische Patriarchat und durch Initiativen von gesamt-orthodoxer Tragweite gegenübergestellt, wie etwa die Durchführung des Panorthodoxen Konzils von 2016 oder die Gewährung der Autokephalie an die Orthodoxe Kirche der Ukraine 2019. Die größte Herausforderung hierbei ist die Rivalität mit dem Patriarchat von Moskau, besonders in den beiden letztgenannten Beispielen.

Das Kapitel von Sebastian Rimestad beginnt den letzten Buchteil „Jurisdiction“ und beleuchtet an mehreren Beispielen die Instrumentalisierung der Geschichte in den Jurisdiktionskonflikten zwischen den orthodoxen Lokalkirchen, welche die drei Formen der Koexistenz der Konfliktparteien, der Sezession und der Protektion nehmen. Die Bedeutung, die dem Territorium in der orthodoxen Ekklesiologie zukommt, macht die Kirche identitätsrelevant und bietet einen guten Nährboden für die Idee einer Nationalkirche. Die Darstellung des ukrainischen Staates vor 2018 als neutral in den innerorthodoxen Konflikten ist jedoch problematisch. Wertvoll ist hingegen die Beobachtung, dass die Errichtung von den „nationalen“ autokephalen Kirchen keine Unabhängigkeit, sondern immer eine völlige Abhängigkeit vom Staat nach sich gezogen hat.

Die Frage der Jurisdiktion prägt auch den von Nenad Živković untersuchten Konflikt zwischen der Makedonischen Orthodoxen Kirche, die keine Anerkennung unter den anderen orthodoxen Kirchen genießt, und der Serbischen Orthodoxen Kirche. Živković verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz und stellt die einschlägigen kirchengeschichtlichen Voraussetzungen und das nordmakedonische Nation-building, die nordmakedonischen Beziehungen zur Serbischen und der Bulgarischen Orthodoxen Kirche, aber auch den auch hier ausgefochtenen gesamt-orthodoxen Machtkampf zwischen Konstantinopel und Moskau dar.

Auch in Montenegro schwelt ein anders gewichteter Konflikt, der sich jedoch auch um die Nationenbildung dreht. Emil Hilton Saggau spricht über die Rolle der Kirche bei der Sakralisierung der Nation bis hin „zur heiligen und freien montenegrinischen Trinität von Volk, Staat und Kirche“, liefert eine allgemeine Übersicht über die montenegrinische kirchliche und säkulare Geschichte und die Nutzung historischer Narrative in Abhängigkeit vom (kirchen)politischen Ziel.

Der Sammelband zeichnet trotz der mit dieser Buchform einhergehenden heterogenen Autorenschaft ein abgerundetes Bild von der äußerst dynamischen Schnittstelle von Orthodoxie und Moderne. Die Autoren behandeln sowohl die ganz persönlichen Strategien von Gläubigen, Moderne und die Orthodoxie zu vereinbaren, als auch die Nutzung historischer Narrative durch miteinander verschränkte politische Akteure und Kirchenfürsten sowie die damit einhergehenden Mechanismen der interorthodoxen Konflikte. Wer verstehen möchte, wie sowohl orthodoxe Christen als auch die jeweiligen Amtskirchen mit der Moderne umgehen, kommt nicht an Coping with Change vorbei.

Ernest Kadotschnikow, Erfurt