Ungarn: Experten sehen Aufholbedarf beim Kinderschutz
Die Kirche und die Gesellschaft in Ungarn haben Aufholbedarf in Bezug auf den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Missbrauch. Das war der Tenor einer Podiumsdiskussion am 23. April in Budapest mit dem Titel „Kirche und Pädophilie“. Organisiert hatte die Debatte der christliche Blog „Der Glaube ist keine Privatsache – 777 Portal“. Zu Wort kamen ungarische Kinderschutzaktivisten sowie Missbrauchsopfer, aber auch Kirchenvertreter, die u.a. an der Erarbeitung einer Kinderschutzstrategie der ungarischen Kirche beteiligt waren.
Attila Pető war das erste Opfer von Misshandlungen durch einen Priester in Ungarn, das sich mit seiner Geschichte an eine breite Öffentlichkeit gewandt hatte. Pető wurde in den 2000er Jahren im Alter von 13 Jahren von einem Priester missbraucht. Nach erfolglosen Versuchen bei verschiedenen Stellen wandte er sich 2016 an die Erzdiözese Esztergom-Budapest. Der Priester, der ihn missbraucht hatte, wurde daraufhin suspendiert. „Meine Stimme war nötig, damit sich Opfer äußern“, sagte der Kinderschutzaktivist.
Mit seinem Fall habe sich das Verständnis der Kirche für die Situation der Opfer verändert, aber es gebe immer noch große Defizite, stellte Pető fest. „Wir begreifen immer noch nicht vollständig das Ausmaß des Kindesmissbrauchs, wir verstehen nicht, was in der Seele des Opfers vorgeht.“ Der Schritt zu einer „Null-Toleranz-Politik“, den die Kirche 2021 vollzog, wertete der Aktivist als wichtig. In dem entsprechenden Dokument heißt es u.a.: „Wir empfinden tiefes Mitgefühl für all jene, die als Kinder Schaden erlitten haben. Wir beten für den seelischen Frieden der Opfer solcher Taten, für die Heilung der in der Vergangenheit erlittenen Wunden und wir bitten um Vergebung anstelle der Täter.“ Aber die Kirche müsse noch mehr auf Opfer zugehen. So würde er nach wie vor auf eine persönliche Entschuldigung vonseiten der Kirche warten, sagte Pető.
Der Jurist und Bildungsexperte Balázs Puskás sprach hingegen von einer „Pandemie des Kindesmissbrauchs“ in Ungarn. Es würde sich innerhalb der Gesellschaft nach wie vor zu wenig mit dem Thema befasst, mahnte der Experte, der für die ungarische Ordensoberkonferenz an der Erarbeitung einer Kinderschutzstrategie beteiligt war. So gebe es keine genauen Zahlen zu Kindesmissbrauch in Ungarn, was sehr bedauerlich sei. Die Erfahrung, so Puskás, zeige, dass der Großteil des sexuellen Missbrauchs innerhalb der Familie stattfinde, in einer Schulklasse mit 30 Schülern könnten zwei bis drei betroffene Kinder sein.
Zwei bis vier Prozent des Klerus könnten hingegen „in irgendeinem Maße von Kindesmissbrauch betroffen sein“, schätzte der Franziskanerpater Benedek Dobszay, der ebenfalls an der Erstellung der kirchlichen Kinderschutzstrategie beteiligt war. „Es ist viel zu tun, es mangelt immer noch an grundlegenden menschlichen Gesten“, zeigte auch Dobszay sich überzeugt. Außerdem bedürfe es vieler „ehrlicher und offener Gespräche, um der Realität ins Auge zu sehen“.
Versäumnisse attestierten die Podiumsteilnehmer dem ungarischen Staat im Umgang mit Missbrauch an Kindern, hier sei die Kirche bereits weiter. Allein mit Verschärfungen, wie es die Politik fordere, könne man keine nachhaltigen Ergebnisse erzielen, waren sich die Experten einig. Sowohl auf Ordensebene als auch auf Diözesanebene wurden etwa Kinderschutzprotokolle entwickelt, sowie eine „Strategie der Menschenwürde“. Die Herangehensweise sei hierbei opferzentriert, präventives Denken dominiere. Aber die beschriebenen Ziele und die tatsächliche Praxis in der Kirche deckten sich noch nicht, so der Tenor.
Die ungarische Gesellschaft sei leider „tief gespalten“, sagte Dobszay. „Wir haben den Glauben daran verloren, dass wir vernünftig mit Menschen sprechen können.“ Gerade beim Kinderschutz wäre ein Dialog wichtig, bekräftigte er, „aber wir erleben, dass Fälle für Wahlkampfzwecke ausgenutzt werden“. In Bezug auf die Täter wiesen die Experten darauf hin, dass man sich damit befassen müsse, was jemanden zum Täter mache.
Im Klerus handle es sich bei den Tätern nicht unbedingt um „festgelegte Pädophile“ oder „Soziopathen“, so Dobszay und Puskás. Oft seien es unsichere Menschen, die sich vom Dienst überfordert fühlen und vereinsamen. „Dies wäre vermeidbar. Sie bräuchten unterstützende Beziehungen, wir müssten uns um unsere Priester besser kümmern“, wiesen sie auf ein strukturelles Problem hin. (Quelle: Katholische Presseagentur Kathpress, www.kathpress.at)