„Wenn die Zeit reif ist“ – Die Rolle und Verantwortung europäischer und internationaler kirchlicher Organisationen in Bezug auf die Ukraine
Am 24. August 2024 veröffentlichte der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) ein Statement zum neuen Religionsgesetz 8371 in der Ukraine. Die Erklärung warnte die ukrainischen Behörden in scharfen Worten, keine Restriktionen und Kollektivstrafen über Religionsgemeinschaften in der Ukraine zu verhängen. Veröffentlicht wurde das Statement wenige Tage nach der Verabschiedung durch das ukrainische Parlament, es nimmt jedoch keinen Bezug auf den Allukrainischen Rat der Kirchen und religiösen Organisationen. Daher wirft die Erklärung Fragen zur Rolle und Verantwortung sowohl internationaler als auch europäischer Kirchenorganisationen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine auf. Die ÖRK-Erklärung hat den Nationalen Rat der Kirchen in Dänemark (NCCD) veranlasst, am 7. November eine offizielle Anfrage an den ÖRK zu stellen, wobei es um Fragen zur Sachlichkeit, zur Sprache, zum Zeitpunkt und zur Fähigkeit, ukrainischen Stimmen im Statement vom 24. August Raum zu geben, ging. In diesem Beitrag werde ich als Generalsekretär des NCCD unsere Besorgnis und unsere Wahrnehmung der angemessenen Rolle und Verantwortung ausführen, die ein Gremium wie der NCCD, unser ukrainisches Pendant und der ÖRK in einem Krieg spielen sollten.
Gesetz 8371
Nach Auffassung des NCCD ist das neue Religionsgesetz 8371 das Ende eines langen Prozesses. 2023 wurde ein Entwurf eines Religionsgesetzes ins ukrainische Parlament eingebracht, gefolgt von einem zweiten Gesetzesentwurf im März 2024. Die ersten Entwürfe richteten sich eindeutig gegen die Ukrainische Orthodoxe Kirche – Moskauer Patriarchat (die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats oder die autonome Orthodoxe Kirche in der Ukraine unter Metropolit Onufrij (Berezovskij), UOK–MP) und erlaubten die Auflösung von Glaubensgemeinschaften, die die russischen Kriegsbemühungen unterstützen. Den Vorschlägen begegnete die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) mit einem Narrativ, wonach solch ein Gesetz die Religionsfreiheit in der Ukraine beenden würde. Der erste und zweite Gesetzesentwurf wurden auch von der UN und anderen internationalen Gremien kritisiert. Eine dritte Fassung des Gesetzes wurde am 20. August vom ukrainischen Parlament verabschiedet und am 24. August vom ukrainischen Präsidenten unterzeichnet. In dieser dritten Fassung wurden mehrere Kritikpunkte der UN aufgenommen. Das Gesetz sieht ein Verfahren vor, bei dem eine Glaubensgemeinschaft aufgelöst werden kann, wenn sie „den Aggressor“ mit „illegalen Aktivitäten“ unterstützt. Die Auflösung einer Glaubensgemeinschaft erfordert die Prüfung von fünf Kriterien und ein endgültiges Urteil eines ukrainischen Gerichts. Realistischerweise würde ein solcher Prozess Jahre dauern, da die ukrainischen Behörden Ermittlungen anstellen, einen Fall aufbauen und ein Gerichtsverfahren durchführen müssen.
Der religiöse Rechtsrahmen in der Ukraine arbeitet mit individuellen Gemeinden, nicht mit einzelnen Kirchenorganisation, da es seit langem Konflikte zwischen orthodoxen Gruppierungen gibt. Derzeit sind ca. 8000 Gemeinden als Teil der UOK–MP unter Metropolit Onufrij registriert, wobei sich zwischen 3000 bis 4000 in den russisch besetzen Gebieten in der Ukraine befinden. Das Gesetz verlangt ein gesetzliches Verfahren für jede einzelne Gemeinde, die aufgelöst werden soll, was etwa 4000 Verfahren nach sich ziehen würde. Wie der unabhängige Experte Sebastian Rimestad bemerkte, ist das Gesetz vor allem symbolisch und hat begrenzte praktische Auswirkungen bei seiner Umsetzung.
Mitglieder des Allukrainischen Rats der Kirchen und Religionsgemeinschaften haben ihre Unterstützung für das Gesetz zum Ausdruck gebracht: „Wir versichern, dass die religiösen Rechte und Freiheiten in der Ukraine respektiert werden, selbst inmitten des brutalen Kriegs, und dass unsere Gläubigen trotz gewisser Herausforderungen im Zusammenhang mit dem Krieg die Möglichkeit haben, ihre religiösen Gefühle und Überzeugungen in Würde auszudrücken.“ Im Gegensatz dazu ist der Hauptwortführer gegen das Gesetz in Westeuropa der Anwalt Robert Amsterdam, der von der UOK–MP unter Metropolit Onufrij angestellt wurde und dazu beigetragen hat, das Narrativ vom Gesetz als Bedrohung der Religionsfreiheit zu verbreiten. Kritiker werfen ihm vor, ein angeheuerter prorussischer Lobbyist zu sein.
Das ÖRK-Statement
Am 24. August äußerte der ÖRK in einer Pressemitteilung „Vorbehalte“ und erklärte, dass er „zutiefst beunruhigt wegen einer potenziell ungerechten kollektiven Bestrafung einer ganzen religiösen Gemeinschaft und der Verletzung der Grundsätze der Religions- und Glaubensfreiheit“ sei, die zum „Verbot einer religiösen Organisation“ führen könnte. Der ÖRK beschrieb diese Maßnahmen als „gleichbedeutend mit der kollektiven Bestrafung einer lebendigen gottesdienstlichen Gemeinschaft in der Ukraine“, und wies darauf hin, dass die Regierung der Ukraine für den Schutz der Rechte all ihrer Bürgerinnen und Bürger verantwortlich sei. Die Erklärung des ÖRK spiegelt viele Punkte aus den Erklärungen der ROK und des Büros von Amsterdam wider.
Die Erklärung des ÖRK stieß vor allem auf Kritik ukrainischer Stimmen wie Prof. Cyril Hovorun. In den ukrainischen Medien betonte Hovorun, dass „der ÖRK diese Aspekte des Gesetzes ignoriert und die Sprache der Propaganda übernimmt, die es in ein pauschales Verbot umwandelt.“ Ich selbst wiederholte teilweise die gleiche Kritik in der norwegischen Zeitung Dagen und wies darauf hin, dass die ÖRK-Erklärung in Anwesenheit der ROK im ÖRK-Exekutivausschuss formuliert wurde, und dass es dem ÖRK generell an ukrainischer Präsenz fehlt. Der ÖRK-Generalsekretär antwortete, dass meine Punkte „falsche Anschuldigungen“ und „undokumentiert“ seien.
Der dänische Hintergrund
Um die Position des NCCD und unsere Reaktion besser zu verstehen, muss ich auf Ende August 2024 zurückgehen. Damals hatte ich ein Gespräch mit meinem ukrainischen Amtskollegen vom Allukrainischen Rat der Kirchen und religiösen Organisationen über die Aussicht auf Frieden, Versöhnung und das Gesetz. Wir sprachen über die Rolle, die internationale und europäische kirchliche Organisationen beim Krieg gegen die Ukraine und bei einer friedlichen Beilegung des Kriegs spielen könnten. Der ukrainische Kirchenführer bemerkte, dass solch eine Unterredung nützlich wäre, „wenn die Zeit reif ist“. Er erzählte, dass er die Nacht damit verbracht habe, von seiner Wohnung zu einem Bunker zu laufen, um die Sicherheit seiner Familie zu gewährleisten. In der dunkelsten Nacht, als die einzigen Lichter in Kyjiw die einschlagenden oder abgeschossenen russischen Geschosse waren, hatte er wenig Zeit für Versöhnung. Ich wiederholte seine Worte – „Wenn die Zeit reif ist“ – einige Tage später, als ich am Unabhängigkeitstag der Ukraine am 24. August in einer griechisch-katholischen Kirche im Namen des NCCD während eines Gebetgottesdiensts für die Ukraine eine Rede hielt. Auf der einen Seite saßen Frauen und Kinder, die entweder geliebte männliche Familienmitglieder verloren hatten oder noch immer für diejenigen an der Front beteten, auf der anderen Seite saß eine Gruppe verletzter Soldaten, die in meinem Land medizinische Pflege seitens der dänischen Regierung erhält. Dies ist die Realität des NCCD und unserer Mitglieder. Wir dienen täglich unter ukrainischen Flüchtlingen, halten engen Kontakt zur Kirchenleitung in der Ukraine und bemühen uns darum, dass sie gehört und versorgt wird. Das ist die Realität vieler Kirchen in ganz Europa, die sich seit Jahren um Gastfreundschaft und Unterstützung für die Ukrainer bemühen. Am gleichen Tag, als die gemeinsame Andacht von Ukrainern und des NCCD stattfand, beschloss der ÖRK, scharfe Kritik an der ukrainischen Regierung zu üben, ohne den ukrainischen Kirchen und ihrem Allukrainischen Rat Raum und Stimme zu geben. Die Worte des ÖRK fielen auf einen düsteren Hintergrund an einem Tag, als wir vom NCCD den Opfern des Kriegs unsere Anerkennung und unseren Respekt zollten.
Ich bin mir bewusst, dass der NCCD ein besonderes Gremium in einem besonderen Kontext ist. Es gibt keine russisch-orthodoxen Mitgliedskirchen, aber 67 andere Kirchen und christliche Organisationen. Zu unserem Vorstand gehört der methodistische Bischof von Skandinavien und der Ukraine, der häufig in die Ukraine pendelt. Die dänischen Kirchen unterstützen die Ukraine. Die dänische Bevölkerung und Regierung zählen zu den pro-ukrainischsten auf dem Kontinent. Seit Ausbruch des Kriegs hat die Mehrheitskirche in Dänemark, die Evangelisch-Lutherische Kirche in Dänemark, die ca. 70 Prozent der Bevölkerung repräsentiert, die Beteiligung der ROK am Krieg kritisiert und Schreiben veröffentlicht, um sicherzustellen, dass sich die russische Führung dessen bewusst ist. Mit Blick auf die Ukraine haben der NCCD und die evangelischen Kirchen unseren protestantischen, orthodoxen und griechisch-katholischen Kollegen die Hand gereicht. Wir finanzieren Projekte direkt in der Ukraine und sorgen dafür, dass Geistliche zwischen der Ukraine und Dänemark reisen können, um in der schnell wachsenden ukrainischen Gemeinschaft in Dänemark zu dienen. Unsere jüngste Bemühung war die Gründung eines Vereins zur Unterstützung von Metropolit Epifanij (Dumenko) und der Orthodoxen Kirche der Ukraine, um die Sicherheit und Situation dieser in Dänemark zu gewährleisten. Es mag daher nicht überraschen, dass der NCCD großes Interesse an der Ukraine und an allen kirchlichen Stellungnahmen zum Krieg hat.
Die Sorge des NCCD
Der NCCD stellt nicht die Legitimität des ÖRK in Frage, aber in unserem Brief äußern wir Besorgnis über die Maßnahmen und Stellungnahmen des ÖRK hinsichtlich des Kriegs in der Ukraine. Unsere Sorge ist, dass die Christen in der Ukraine nicht gehört werden. Wir sind der Auffassung, dass kirchliche Gremien wie unseres und der ÖRK die grundlegende Verantwortung dafür haben, dass die Stimme der Christen vor Ort gehört wird – wo and wann auch immer. Daher muss jedes Statement, das das Leben und die Situation von Christen, wie unserer Brüder und Schwestern in der Ukraine, betrifft, sicherstellen, dass ihre Stimmen gehört werden und nicht die Stimmen einer Kirche, die einen aggressiven Angriff auf ihren Boden legitimiert. Daher wirft die Reaktion des ÖRK mit der Erklärung vom 24. August folgende Fragen auf:
1) Zweck: Der Generalsekretär des ÖRK und der Moderator des Exekutivausschusses äußern, dass sie „zutiefst beunruhigt“ seien. Warum sind sie beunruhigt und durch wen?
2) Gerechtigkeit: Der ÖRK bezeichnet das Gesetz als „ungerecht“. Was sehen der Generalsekretär des ÖRK und der Moderator des Exekutivausschusses in dem Gesetz als ungerecht an?
3) Der Inhalt des Gesetzes: Das Gesetz und der ukrainische religiöse Rechtsrahmen operieren nicht mit religiösen Organisationen, sondern mit einzelnen Gemeinden als einzelne rechtliche Einheiten. Was meinen der Generalsekretär des ÖRK und der Moderator des Exekutivausschusses dann damit, dass das Gesetz „eine kollektive Bestrafung“ und das „Verbot einer religiösen Organisation“ bedeuten könnte? Worauf stützt der ÖRK solche Einschätzungen und Aussagen?
4) Der Zeitpunkt: Warum hat der ÖRK in diesem Fall so überstürzt gehandelt? Warum haben der Moderator des Exekutivausschusses und der Generalsekretär des ÖRK keine Experten hinzugezogen oder die ukrainische Regierung um eine Klarstellung gebeten, wie sie es bei Patriarch Kirills Bemerkung über den Krieg als „heilig“ getan hatten?
5) Die Verletzung des „Memorandum of Understanding“ zwischen dem ÖRK und der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK): Warum hat der ÖRK nicht die KEK konsultiert, wie es in der Vereinbarung zwischen beiden Seiten vorgesehen ist? Unserer Ansicht nach ist der Fall eng mit der KEK und ihren Mitgliedskirchen verbunden, so dass die KEK hätte konsultiert werden müssen.
6) Wer profitiert von der Erklärung: Alle Kirchen, Theolog:innen und der ÖRK sollten sich fragen, wer von der ÖRK-Erklärung profitiert, die sich direkt gegen den Allukrainischen Rat der Kirchen und religiösen Organisationen und den ukrainischen Staat richtet. Was hat den Generalsekretär des ÖRK und den Moderator des Exekutivausschusses dazu veranlasst, dieses Statement abzugeben?
Dies ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung des Briefes des NCCD an den ÖRK vom 7. November 2024. Zwischen dem 7. und 18. November haben skandinavische Medien über die Debatte berichtet. Am 18. November trafen sich die Leitung des ÖRK und des NCCD, um den Fall zu besprechen.
Wir hatten „eine offene und direkte Unterredung mit der Führung des ÖRK. Wir sind uns in einigen Fragen einig und in anderen nicht, aber wir haben festgestellt, dass der ÖRK unseren Fragen aufmerksam zugehört hat und wir haben einen gemeinsamen Weg nach vorne gefunden.“ Der Generalsekretär des ÖRK erklärte, dass „der ÖRK sehr deutlich gemacht hat, dass er den Krieg von Beginn an als unmoralisch und illegal verurteilt hat. Der ÖRK hat nicht, wie in den Medien behauptet, eine prorussische Ansicht übernommen. Wir haben zwar zugestimmt, mit der ROK im Dialog zu bleiben, aber haben es nie versäumt, prophetisch zu sein und sie mit ihren Ansichten über einen heiligen Krieg zu konfrontieren.“ Der Moderator des ÖRK-Exekutivausschusses, Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm, fügte hinzu, dass er sich „weiterhin um einen Einbezug ukrainischer Christen in die sie betreffende Arbeit des ÖRK bemühen wird“, was der NCCD begrüßt.
Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Kube.
Emil Hilton Saggau, Dr., Generalsekretär des Nationalen Rats der Kirchen in Dänemark.