Die neue Stadt Ihor Kozlovskyjs - Ein Nachruf
Konstantin Sigov
„Mein Leben ist mein Argument“ war bekanntlich Albert Schweitzers Ziel. Wer verfolgt es heute? Aus Hermann Hesses „Demian“ stammt der Gedanke: „Nur das Denken, das wir leben, hat einen Wert“ – der Weg des ukrainischen Historikers Ihor Kozlovskyj (16. Februar 1954 – 6. September 2023) verkörpert für mich die Aktualität dieses Gedankens. Kozlovskyj hat immer klar zu verstehen gegeben, welche Verantwortung jeder auf sich nimmt, der diesen Gedanken ausspricht. Vom Moment an, in dem man die Tiefe dieser Verantwortung erkennt, beginnt der Weg zur Befreiung von der scheinbaren „Norm“ zynischer Manipulation mit Worten, die nicht mit den Taten derjenigen übereinstimmen, die sie aussprechen.
Weg durch die Hölle
Im Frühling 2014 traf sich Ihor Kozlovskyj mit Vertretern verschiedener Konfessionen und Religionen zum regelmäßigen Gebet für den Frieden im Stadtzentrum von Donezk. Viele Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser riskanten Treffen waren seine ehemaligen Studierenden, oder sie kannten ihn als herausragenden Religionswissenschaftler, dessen Worte sich nicht von seinen Taten unterschieden. Nach dem Verbot dieser öffentlichen Auftritte durch die Okkupationsbehörden verließ Kozlovskyj Donezk nicht. Zusammen mit seinem Sohn, der medizinische, psychologische und einfach menschliche Unterstützung brauchte, blieb er in seiner Heimatstadt. Er wurde nicht müde, seine Schüler, bekannte und unbekannte Menschen daran zu erinnern, dass die menschliche Würde das Feld ist, dessen Bearbeitung die wichtigste Arbeit in unserer Innenwelt darstellt. Eben das hilft, Furchtbarstes zu überwinden. Er hat diese Wahrheit vollkommen in die Tat umgesetzt, als er selbst zum politischen Gefangenen wurde.
Am 27. Januar 2016 warfen die Besatzer Kozlovskyj aufgrund seiner proukrainischen Position ins Gefängnis. Er wurde von Offizieren des FSB verhört, überlebte grausame Folter und befand sich fast zwei Jahre (700 Tage) lang bis zum 27. Dezember 2017 in Haft. Zusammen mit zahlreichen NGOs (vgl. den Bericht von Amnesty International) bemühte sich die Ukraine um seine Befreiung. Seine Peiniger teilten Kozlovskyj bei den Verhören mit offenem Zynismus mit, dass sie keine wichtige Information oder eine Selbstanklage von ihm mehr erwarteten, sondern ihn nur noch zwecks Gefangenenaustausches festhielten. Und auf diese Weise kam er schließlich auch wieder frei. Danach lebte er in Kyjiw und arbeitete als Senior Researcher in der Abteilung für Religionswissenschaften des Instituts für Philosophie der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften. Unermüdlich reiste er herum und trat auf internationalen Foren auf und wurde zu einer gewichtigen „Stimme der ukrainischen Gefangenen“.
In tiefgründigen Interviews, in Vorlesungen voller echter Weisheit und im lebendigen Austausch entwickelte Ihor Kozlovskyj sein für mich zentrales Leitmotiv. Nicht nur mit Worten, sondern auch mit seinem ganzen Wesen befreite er uns von der Angst vor dem Schlimmsten, vor dem absoluten Bösen. Sein vertrauenswürdiges Zeugnis von der Fähigkeit des Menschen, durch die Hölle zu gehen, nicht gebrochen zu werden und seine Würde zu bewahren, haben in mir persönlich und in vielen unserer Zeitgenossen einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen. Im Licht und im Horizont seiner Erfahrung wurde er für mich zu einem einzigartigen Menschen.
Würde und Wahrhaftigkeit
Im September 2021 zeichnete ich mit ihm einen anderthalbstündigen Dialog über die aktuellen Schlussfolgerungen der Revolution der Würde auf (ukr. Text / Video). Ich sah in ihm eine lebendige Fortführung der Gedanken Dietrich Bonhoeffers über die zwei Hauptaufgaben unserer Zeit: Die Vertiefung des Innenlebens und gerechte Handlungen der Solidarität mit Menschen, die dies dringend brauchen.[1] Ihor Kozlovskyj sagte dazu: „Würde ist innere und äußerliche Wahrhaftigkeit. Wahrheit ist, wenn Du auf allen Ebenen der Verantwortung eine Antwort auf die Fragen hast: ‚Wer bist Du?‘ und ‚Was willst Du?‘“ Wahrheit erinnert daran, wie das innere Wesen Deinen Handlungen und Deinen Worten entsprechen sollte. Der Moment, indem jedwede geistige Praxis, geistiges Innenleben beginnt, ist derjenige, in dem Du darauf achtest, die Wahrhaftigkeit Dir selbst gegenüber nicht zu verraten. Auf diese oder jene Weise versuchen wir immer wieder instinktiv, uns nicht uns selbst gegenüber zu verantworten, sondern gegenüber den Umständen, der Massenkultur, den Forderungen der Gesellschaft. Und sehr oft vergessen wir uns selbst, unsere innere Wahrheit, unsere Nicht-Zufälligkeit in dieser Welt, unseren Weg zur Verwirklichung unserer Aufgabe kraft dieser Nicht-Zufälligkeit. Es geht um ein Wertesystem, „das diesen wahrhaftigen innerlichen Horizont gestaltet, in dem Du wirkst“. Den Prüfstein des Denkens sah Kozlovskyj in einer Praxis, von der es im Lukasevangelium heißt: „Habt acht auf euch selbst!“ (Lk 17,3).
Bildung als nationale Aufgabe
Vor dem Hintergrund des inneren „Achten auf sich selbst“ hat Ihor Kozlovskyj eine tiefgründige Philosophie der Bildung als alltägliche Praxis entwickelt. Im August 2019 nahm er an einer Sommer-Universität in Kyjiw teil. Unter seinen Hörerinnen war auch die französische Philosophin Marguerite Léna (Autorin des Buchs «L’ésprit de l’éducation». Paris 2004), die von dem folgenden Gedanken Kozlovskyjs besonders beeindruckt war: Würde, Reife, Freiheit und Menschlichkeit sind dazu berufen, die Bildung umzugestalten und zu Schlüsselcharakteristiken einer neuen Periode im Leben unseres Landes zu werden. Kriegsmüdigkeit vernichtet die Errungenschaften der vorangehenden Epoche nicht, wenn kraftvolle Energie in die Bildung gesteckt wird. Dies sollte nach dem Majdan zu einer nationalen Hauptaufgabe und einer neuen Erweckung der Zivilgesellschaft führen. Eine Invasion der Unwissenheit versucht die klaren Gedanken unserer Zeitgenossen zu unterwandern. Zyniker sprachen fünf Jahre nach der Revolution der Würde in der Hitze der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom „Ende der Epoche der Würde“. Damals überlegten wir: Worin besteht der „Zeitgeist“ der neuen Periode? Doch heute erweist sich die Gegenüberstellung von Epochen und Perioden als falsch. Ungeachtet der gegenwärtigen finsteren Zeiten kann sich das Denken dennoch auf etwas stützen, was Hoffnung weckt, und das ist die einfache Überzeugung: Wir leben in der Epoche von Ihor Kozlovskyj (in seiner Bescheidenheit würde er jetzt laut auflachen). Anders gesagt: Uns ist die Chance gegeben, die reale Erfahrung unseres Zeitgenossen, der die Herausforderungen dieses Kriegs gemeistert hat, aufzunehmen und sie uns anzueignen. Seine Erkenntnisse werden uns noch lange begleiten.
Zeuge der Menschlichkeit
Der Tod von Ihor Kozlovskyj am 6. September war für uns alle ein Schock. Kein Wort hat er über die Folgen der Gefängnisfolter für sein Herz verloren. Welchen Preis hat er dafür bezahlt, dass er seine Überzeugungen weder verbarg noch verriet? Er hat in die Augen derjenigen geblickt, die seine Heimatstadt getötet, an Donezk einen Urbizid verübt haben. So gut er konnte, half er den Mitbürgern seiner Stadt, die zu seinen Zellengenossen geworden waren.
Nach abendlichen Elektroschocks wurden sie morgens mit der russisch-sowjetischen Hymne aus den Lautsprechern geweckt. Nachdem Kozlovskyj protestiert hatte, sang er als Einziger im Karzer die Hymne seines freien Landes. Man versuchte ihn mit Gulag-Vulgarismen zu stoppen. Nicht einmal ein Echo der Intonation seiner Peiniger ließ er in seine Rede einfließen. Ihre Phoneme übernahm er höchstens als Parodie. Es ist erstaunlich, was für ein freier Mensch er dort, in einem Sack voller Unmenschlichkeit, sein konnte. Zurück in Freiheit teilte er ohne jeden Heroismus mit einer unverwechselbaren Einfachheit, Selbstbeherrschung und Humor mit uns, was gerade das Wesentlichste war: „Der Mensch existiert, wenn Menschlichkeit existiert. Wir sollten die bestialischen Handlungen des Feindes nicht widerspiegeln. Wir sollten ein Beispiel der Menschlichkeit zeigen, der Freiwilligenarbeit, der Seelsorge. Die Pflicht der Liebe ist unendlich: man kann sie dort schenken, wo man gerade ist. Dem einen kann man ein gutes Wort zusprechen, der andere braucht einfache menschliche Wärme. Das gibt Dir die Möglichkeit zu leben, und es gibt Dir Kraft.“ In der Tat fühlte sich sein Wort wie ein Händedruck an, es unterstützte uns im Sein, ließ uns nicht entgleisen und die Menschlichkeit verraten.
Zu seinen Schülerinnen und Schülern, teilweise ohne es zu merken, wurden nicht nur Studierende, sondern auch Menschen meiner Generation und ältere. Mit unerwarteten und passenden Zeilen aus einem Haiku (japanisches Kurzgedicht) oder einem Psalm verwandelte er die mechanischen Elemente des Bildungsprozesses. Mit seinem wahrhaft enzyklopädischen Wissen bedrängte er niemanden, sondern verflocht alle in freundschaftliche Gespräche. Freundschaftliche Beziehungen mit seinen Schülern hielt er lange Jahre aufrecht; in welche Länder es sie auch verschlug, er verlor sie nicht aus dem Blickfeld. Und als er in Gefangenschaft war, erhoben sich die Stimmen seiner Freunde in der ganzen Welt.
Neue Hörerinnen und Hörer in Kyjiw und anderen Städten der Ukraine inspirierte er mit der grenzenlosen Freundschaftsliebe eines offenen und großzügigen Menschen – einem Menschen, in dem die Peiniger in der Isolation nur den Feind sahen und versuchten, ihm durch Folter einen ähnlichen Blick auf alle um ihn herum aufzudrängen. Sein Lächeln vermittelte deutlicher als alle dogmatischen Formeln: Du wirst keine Angst vor dem Tod haben, wenn Du jemandem folgst, der ihn durchlebt hat und zu Dir spricht.
Die neue Stadt der Freundschaft
Eben dieses Gespräch mit Ihor Kozlovskyj kam mir in der Nacht zum 24. Februar 2022 in den Sinn, bevor Kyjiw erstmals bombardiert wurde und die russische Armee versuchte, die Stadt zu erobern (vgl. hierzu Sigovs Text vom 24. Februar 2022). Wir wussten, dass die russischen Panzer Verhaftungslisten mit sich führten, um dem ukrainischen Staat und der Zivilgesellschaft der Ukraine die besten Köpfe zu rauben. Kyjiw war dasselbe Schicksal wie Donezk zugedacht, und sicherlich fand sich auf diesen Listen auch der Name Ihor Kozlovskyj. Erneut bedrohte ihn die schmerzhaft bekannte Hölle der Gefangenschaft, doch er floh nicht aus Kyjiw. In der vierten Woche des Kampfes um Kyjiw traf ich ihn am 18. März 2022 an einer Versammlung, und seine genauen Repliken ermutigten die Gesprächsteilnehmer. Er verließ keine einzige der Städte, die er liebte; in einem gewissen Sinne schuf er eine neue Stadt, die er mit seinen Freundinnen und Freunden füllte.
Die Verabschiedung von ihm am 9. September war ein einzigartiges Ereignis in der tausendjährigen Geschichte Kyjiws. Die Liturgie fand in der St. Michaels-Kathedrale statt (die 1937 mit Dynamit gesprengt, und 1997–98 wieder aufgebaut worden war). Sein Sarg wurde im Vorhof der Kathedrale aufgebahrt, worauf sein Sohn und seine Freunde das Wort ergriffen. Neben den Stimmen aus orthodoxen, protestantischen, griechisch-katholischen und römisch-katholischen Gemeinschaften erklangen Gebete und freundschaftliche Zeugnisse von Juden, Muslimen und Buddhisten. Im Vorhof des St. Michaelsklosters war eine solche Polyphonie nie dagewesen, und das ganze Geschehen wirkte dennoch – und das ist das Wesentliche – vollkommen natürlich, echt und wahrhaftig. Menschen guten Willens atmeten – dank eines Freundes – die Luft gottmenschlicher Gemeinschaft angesichts der Begegnung von Tod und Leben (eine Luft, die manchmal in interreligiösen Foren fehlt).
Die Verabschiedung dauert noch an, und mir fehlen die Worte, sie drehen sich im Kreis oder verstummen. Zusammen mit dem ukrainischen Komponisten Valentin Sylvestrov habe ich mir erneut das Interview mit Ihor Kozlovskyj über die Würde angehört. Worauf Sylvestrov eine Elegie zum Gedächtnis an Ihor Kozlovskyj komponierte. Musik hilft, mit dem inneren Gehör den Gesprächspartner weiterhin zu hören (lontano). Ihor hat uns großzügig die Chance gegeben, in Zeit und Raum seiner Freundschaft zu leben. Sie haben keine Grenzen. Seine Gedanken und seine Stimme sind die Luft, in der unsere Gesellschaft und unsere Welt atmen kann. Vielleicht erreicht die Botschaft aus seiner neuen Stadt auch die vom Krieg zerstörten Häuser.
Übersetzung von Regula Zwahlen.
Konstantin Sigov, Direktor des „European Humanities Research Center“ und des Verlags „Dukh i Litera“ an der Universität der Kyjiw-Mohyla Akademie in Kyjiw.
Foto: Maksim Sidorenko
[1] Vgl. Bonhoeffer, Dietrich: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Gütersloh 2005, S. 157: „Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen.“