„Schläfer“, Dissidenten und Mittläufer – Russische Geistliche und der Krieg in der Ukraine
Georgij Borisov
Die Kirche und ihre Geistlichkeit sind ein Spiegelbild der russischen Gesellschaft. So ist auch die Reaktion auf die am 21. September von Präsident Vladimir Putin verkündete Mobilisierung völlig naheliegend – sie demonstriert die gesamtgesellschaftliche Stimmung. Nur ganz wenige Geistliche möchten in das Kriegsgebiet fahren; mit den Frontberichten gab es allerdings schon mehrmals Meldungen über den Tod von Geistlichen. Diese Berichte liefern jedoch keine kanonische Begründung für die dortige Anwesenheit eines Priesters, der z. B. Vorsteher einer Dorfgemeinde Tausende von Kilometern von der Ukraine entfernt ist. Dies sind keine Einzelfälle, es ist bekannt, dass Geistliche auf „Geschäftsreisen“ gehen. Sie fahren nicht erst seit Kriegsbeginn in der Ukraine, sondern schon seit vielen Jahren: nach Syrien und an andere Brennpunkte, wobei sich einige selbst anbieten. Dabei ist schwierig abzuschätzen, wie stark ihr patriotisches Gefühl ist, wenn dieser Patriotismus mit Gehältern des Verteidigungsministeriums gut bezahlt wird. Es lässt sich nur vermuten, dass einige Priester tatsächlich aufgrund ihrer Vorstellungen von der Pflicht eines Geistlichen in den Krieg fahren, aber einige fahren auch „auf der Jagd nach dem großen Geld“. In dieser Hinsicht unterscheiden sie sich nicht von einem Teil ihrer Gemeinde – jenen Freiwilligen, die in den Krieg ziehen, um Geld für die Renovation der Datscha oder ein neues Auto zu verdienen.
Offenkundig ist auf jeden Fall, dass die aktuelle russische Führung die Geistlichen ausschließlich als ideologische Arbeiter betrachtet. Leider verwechseln auch viele Geistliche häufig ihren Dienst mit der Propaganda russischer Staatsideologie und willigen gern in ihre neue Rolle ein. Verantwortlich dafür scheint ein Mangel an Tradition, Bildung und Verwurzelung im Christentum: Ehemalige Komsomolzen, spätsowjetische Ingenieure und einfache Menschen ohne Bildung und Ideale landeten mit der Perestrojka in der Kirche; ohne jegliche Orientierungspunkte, Traditionen und Mentoren brachten sie sich selbst das Christentum bei, wie sie es verstanden. Sie wuchsen spirituell in einem Christentum auf, das mit einer nationalen patriotischen Idee vermischt war, an der es dem Land aus ihrer Sicht mangelte. Danach wurden sie Priester und bildeten auf Grundlage ihrer Ideen die nächste Generation aus, die so unbewusst ebenfalls zutiefst sowjetisch geprägt wurde, obwohl sie oft ihren Antisowjetismus und Antibolschewismus deklarierte. Diese Schicht wurde zu Schläfern, die leider aufgewacht und an die Arbeit gegangen sind.
In den letzten Wochen habe ich häufig mit Menschen gesprochen, die jahrelang auf keine Weise ihre quasipatriotischen Gefühle zeigten, aber über Nacht zu Agenten der sog. „Russischen Welt“ geworden sind. Zu ihnen zählen erfolgreiche Unternehmer, die zwar wegen des Kriegs etwas zu verlieren haben, aber trotzdem nach der Mobilisierung erklären: „Wenn nötig, gehe ich“. Unter ihnen sind Geistliche, die viele für selbständig denkend und aufgeschlossen hielten, so dass sie als „Liberale“ bezeichnet wurden. Beispielhaft dafür sind der bekannte Geistliche Georgij Kotschetkov, der sich für die Ausbildung der Laien und die Übersetzung der liturgischen Texte aus dem Kirchenslawischen ins Russische einsetzt. Ein anderes Beispiel ist der konservative Erzdiakon Artemij Vladimirov, ein charismatischer Leiter einer großen Moskauer Gemeinde, der früher nicht bei der Diskussion politischer Fragen auffiel.
Wenn wir die russische Geistlichkeit insgesamt betrachten, sehen wir, dass sie es nicht gewohnt ist, ihre Meinung auszudrücken. Die Idee eines Geistlichen als Persönlichkeit ist der russischen Orthodoxie fremd und wird von ihr verurteilt. Deshalb verbreiten die Geistlichen massenhaft Ideen, zu denen sich ihre Gemeindemitglieder bekennen. Nicht umsonst ist das alte russische Sprichwort „Wie der Pope, so die Gemeinde“ so beliebt. Auch das Gegenteil ist absolut richtig. Die Geistlichen denken entweder nicht über die Ereignisse nach und glauben, dass der Präsident, der Patriarch und die Erzbischöfe a priori Recht haben, oder sie halten es für unmöglich, deren Handlungen zu kritisieren.
Bei der Abfahrt der Eingezogenen an die Front ist häufig zu sehen, wie ein Geistlicher die Abreisenden mit patriotisch-pathetischen Worten aus einem einzigen Bibelzitat – „Das Leben für seine Freunde hingeben“ (Joh 15,13) – verabschiedet, ohne im Geringsten an dessen theologische Auslegung zu denken, in der keine Rede von Krieg ist. Ein Großteil der Geistlichen zieht es vor zu schweigen, sie äußern ihre persönlichen Ansichten auf keinerlei Weise. Stattdessen tun sie so, als sei nichts geschehen, und achten darauf, dass sie in ihren öffentlichen Auftritten und Predigten weder eine Position für noch gegen den Krieg preisgeben. Daher wissen wir auch nicht, wie die Geistlichen, die den Krieg unterstützen oder zu ihm schweigen, über diesen unter vier Augen zu den Menschen sprechen, die wegen eines entsprechenden Rats zu ihnen kommen.
Viel interessanter ist die Position von Geistlichen, die nicht mit dem Krieg und der Mobilisierung einverstanden sind. Von ihnen gibt es nicht wenige. Das sind entweder junge Leute zwischen 22 und 35 Jahren oder diejenigen, die aus dem sowjetischen Dissidententum hervorgegangen sind und heute zwischen 55 und 70+ Jahren alt sind. Die jungen Geistlichen – außer denen, die ideell den Krieg unterstützen – ähneln in ihren Interessen und Lebensansichten ihren weltlichen Altersgenossen. Sie wuchsen während der ziemlich freien 1990er Jahre auf und kamen mit der westlichen Kultur in Kontakt. Ihnen wurde in der Kindheit die patriotische Erziehung nicht eingeimpft, und wenn doch, haben sie diese Erziehung und die Sonntagsschulen von schlechter Qualität nur am Rande gestreift. In ihrem Dienst stützen sich solche Priester vor allem auf das Evangelium und nicht auf die Tradition der Heiligen Väter (wie das ältere Geistliche tun), sie predigen aktiv und bemühen sich, verständlich zu dienen und die Gemeindemitglieder in den Gottesdienst miteinzubeziehen. Ihnen ist der säkulare Raum nicht fremd, man kann sie fast überall antreffen, wo sich junge Menschen aus ihrer Generation versammeln. Es lässt sich sagen, dass diese Generation von Geistlichen zweifellos westorientiert und ihnen die Idee der „Russischen Welt“ fremd ist. Den Krieg nimmt diese Generation als persönliche Tragödie wahr, da ihnen allein die Vorstellung eines Kriegs, das Töten eines Menschen durch einen Menschen, fremd ist. Sie haben die Tschetschenienkriege nicht miterlebt, sie sind in einer Welt aufgewachsen, in der Frieden, Menschenwürde und Globalisierung eine wichtige Rolle spielten.
Die Mobilisierung bedroht diese Geistlichen nur schon wegen ihres Alters. Sehr viele Priester erhalten Einberufungsbefehle, weil die Einberufungsämter entweder nicht wissen, dass der betreffende Bürger ein Geistlicher ist, oder es spielt keine Rolle, weil die Kirche in Russland vom Staat getrennt ist. Aus Gesprächen mit verschiedenen Geistlichen, die Einberufungsbefehle erhalten und die sich an die „Hotline zur Mobilisierung“ gewandt haben, wird klar, dass der Staat diesen Punkt überhaupt nicht bedacht hat. Das zeigen die Antworten der Einberufungsbehörde, die häufig folgendermaßen lauten: „Ein Geistlicher ist ebenso ein Bürger wie alle anderen und eine Aussetzung des Dienstes steht ihm nicht zu“; „Wenn Sie nicht schießen können, gehen sie als Sanitäter, Verletzte raustragen“; „Sie werden als Kaplan dienen“; „Machen Sie sich keine Sorgen, bald kommt eine entsprechende Verordnung der Regierung heraus, dass Geistliche nicht einberufen werden“. Es gibt zwar einen Dialog der Regierung mit dem Moskauer Patriarchat und den anderen traditionellen Religionsgemeinschaften über die Frage der Mobilisierung, doch die Öffentlichkeit erfährt nichts darüber. Die Leitung der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) hat bisher nichts offiziell in Bezug auf die Mobilisierung Geistlicher verkündet.
Junge Geistliche denken auch viel über Emigration nach, da sie Gott dienen wollen und nicht einer konkreten Kirchenstruktur, doch machen sie sich Sorgen, wie sie ihren Dienst im Ausland fortsetzen können, wovon ein Geistlicher dort leben kann und, am wichtigsten, wie sie ohne kanonische Folgen aus Russland ausreisen können. Einige Geistliche unterschiedlichen Alters haben Russland bereits verlassen. Obwohl deren Zahl gering ist, gibt es sie doch. Es ist schwierig festzustellen, wie diese Priester die Abreise aus ihren Eparchien gelöst haben. Immer wieder gibt es unbestätigte Gerüchte, dass Geistlichen im Fall eines Besuchs sog. „feindlicher Länder“ ein Gottesdienstverbot droht. Vermutlich würde der Strom von Geistlichen in den Westen substanziell zunehmen, wenn eine der anderen orthodoxen Lokalkirchen erklären würde, solche Geistlichen aufzunehmen, ungeachtet möglicher Sanktionen seitens des Moskauer Patriarchats.
Unter den jungen Geistlichen gibt es auch Befürworter der kriegerischen Operation, es gibt sie auch unter den gut ausgebildeten Priestern, die Kontakt mit westlichen Ländern hatten. Doch meistens sind es eben jene „Schläfer“, von denen wir schon gesprochen haben. Das bedeutet, dass sich die ROK insgesamt weiterhin als Stütze des Staats fühlt und auch so agiert. Gleichzeitig gibt es auch nicht wenige, die mit diesem Bündnis, der Person des Patriarchen und der ungewissen Zukunft unzufrieden sind und sich in Opposition zur weltlichen Macht befinden, wobei das Alter oft keine besondere Rolle spielt.
Es ist möglich, dass einige in nächster Zeit ihre Unzufriedenheit aktiver ausdrücken werden, da in den letzten Wochen aus dem Patriarchat Zirkulare über das obligatorische Rezitieren von genehmigten Gebetstexten in den Gottesdiensten für den Sieg im Krieg „gegen die Heilige Rus‘“ und über öffentliche Gebete für die Gesundheit von Präsident Putin kommen. Dies erscheint vielen Geistlichen inakzeptabel, da es noch bis vor kurzem hieß, dass Geistliche und Bürger jegliche politischen Ansichten haben können, und die ROK sich mit keiner politischen Kraft identifiziert.
Georgij Borisov (Pseudonym), ein orthodoxer Geistlicher in Russland.
Bild: Hauptkathedrale der russischen Streitkräfte bei Moskau. (© Sergey Sebelev, CC BY-SA 4.0)