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Pavel Sevjarynez und Metropolit Veniamin (Tupeko) von Minsk zur belarusischen weiß-rot-weißen Fahne

20. Mai 2021

Der belarusische Oppositionspolitiker Pavel Sevjarynez, der seit dem 7. Juni 2021 inhaftiert ist und von Amnesty International als politischer Gefangener eingestuft wird, hat sich im Frühjahr 2021 mit zwei Schreiben an das Oberhaupt der Belarusischen Orthodoxen Kirche, Metropolit Veniamin (Tupeko) von Minsk, gewandt. Auslöser war, dass die Staatsanwaltschaft der Republik Belarus im Januar 2021 den Gesetzentwurf „Über die Änderungen der Gesetze zur Bekämpfung des Extremismus“ ausgearbeitet hat. Dieser sieht vor, die belarusische weiß-rot-weiße Flagge und andere Symbole als extremistisch einzustufen. Im Folgenden dokumentiert NÖK den Briefwechsel zwischen Sevjarynez und Metropolit Veniamin, der nicht nur den Konflikt um die weiß-rote-Flagge thematisiert, sondern auch grundlegende Fragen des Verhältnisses von Kirche und Politik anspricht.

Zum Hintergrund des Flaggenstreits: Die weiß-rot-weiße Flagge ist seit Beginn der Demonstrationen im August 2020 für weite Teile der Bevölkerung in Belarus zu einem Symbol des Protestes gegen den Machthaber Alexander Lukaschenka geworden. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Flagge vor allem von Oppositionellen benutzt worden. Die weiß-rot-weiße Flagge war bereits kurzzeitig die Staatsflagge der Belarussischen Volksrepublik 1918–1919 und der unabhängigen Belarusischen Republik nach dem Zerfall der Sowjetunion, bis Lukaschenka sie 1995 in einem Referendum durch die aktuelle rot-grüne Staatsflagge ersetzen ließ.

Seit Beginn der Proteste führt das Lukaschenka-Regime einen Kampf gegen die weiß-rot-weiße Flagge, wobei nicht nur das Zeigen der Flagge, sondern auch das Zurschaustellen der Farbkombination von rot und weiß als Ordnungswidrigkeit bzw. Straftat betrachtet wird. Die Staatspropaganda verunglimpft die Flagge als „faschistisch“, weil sie ebenso wie z. B. die nationalen Flaggen von Russland und der Ukraine im Zweiten Weltkrieg von antisowjetischen Befreiungskämpfern unter deutscher Besetzung verwendet wurde.

 

Brief von Pavel Sevjarynez an Metropolit Veniamin (Tupeko) von Minsk vom 3. März 2020
Eure Exzellenz!

Als orthodoxer Christ, Gemeindemitglied der St. Peter und Paul Kathedrale in Minsk, Mitglied des Verbands der belarusischen Schriftsteller und des Rats der Vereinigung der Belarusen der Welt „Vaterland“, schreibe ich Ihnen anlässlich der Auseinandersetzung rund um die weiß-rot-weiße Symbolik.

Wir Orthodoxen sind uns wohl bewusst, dass die weiß-rot-weiße Flagge das Bild des weißen Leichentuchs ist, in das der blutige Körper unseres Herrn und Erlösers Jesus Christi bei der Bestattung nach der Kreuzigung eingewickelt wurde. Nach der Auferstehung Christi wurde den Menschen das weiße Tuch mit Seinem Blut als Zeichen des Sieges Gottes über das Böse und den Tod hinterlassen. Daher wird Jesus auf zahlreichen kanonischen orthodoxen Ikonen der Auferstehung mit einem weißen Banner mit rotem Kreuz oder Streifen dargestellt und die festliche Kleidung der orthodoxen Bischöfe ist mit weiß-rot-weißen Bändern, sog. „Quellen“, verziert. Darüber hinaus ist das Logo der Website der Russischen Orthodoxen Kirche mit zwei weiß-rot-weißen Flaggen verziert.

Im Laufe der jahrtausendelangen belarusischen Geschichte, von der Taufe bis zur Gegenwart, ist die weiß-rot-weiße Flagge der Auferstehung zu einem wahrhaft nationalen Symbol geworden. Sie ist auf vielen Ikonen, Gemälden und Wimpeln zu finden. 1918 wurde in der Republik Belarus die weiß-rot-weiße Flagge als staatliche Flagge anerkannt. Im Jahr 1995, als sich der Oberste Rat mit der Frage der belarusischen Symbole auseinandersetzte, fragte der belarusische Volkdichter Nil Gilevich Metropolit Filaret, Exarch von ganz Belarus, nach seinem Verhältnis zur weiß-rot-weißen Flagge. Metropolit Filaret von Minsk und Slutsk antwortete: Wie kann ich das Symbol des Blutes Christi, das auf dem weißen Leichentuch vergossen wurde, einschätzen? Nur positiv!

Eure Exzellenz, Ich bitte Sie, Ihre Stimme als Oberhaupt der Belarusischen Orthodoxen Kirche zur Verteidigung der weiß-rot-weißen Flagge Christi zu erheben. Es darf nicht zugelassen werden, dass das weiß-rot-weiße Symbol der Auferstehung als extremistisch eingestuft wird. Ihr Wort kann ein wichtiger Schritt sein, um die Gesetzlosigkeit in Belarus zu stoppen und die Wahrheit und Gerechtigkeit Christi wiederherzustellen.

Mit Respekt und Wünschen von Gottes Segen, 3. März 2021

Pavel Sevjarynez

 

Antwortschreiben von Metropolit Veniamin an Pavel Sevjarynez vom 30. März 2021
Friede sei mit Ihnen, Pavel Kanstantsinavich!

Sie rufen auf, nicht zuzulassen, dass die weiß-rot-weiße Flagge als extremistisch eingestuft wird. Sie nennen sie die „weiß-rot-weiße Flagge Christi“. Beachten Sie, dass Flagge, Wappen und Hymne Symbole eines bestimmten Staates sind. Und die Republik Belarus hat solche Staatssymbole. Die Symbole Christi sind jedoch sein Kreuz und seine Ikone.

In der Tat haben orthodoxe Bischöfe weiß-rot-weiße Streifen auf ihren Bischofsmänteln, die sog. „Ströme“, die als Erinnerung an das hochwürdigste Blut des Erlösers auf dem weißen Leichentuch dienen. Diese Farbkombination des Stoffes wurde jedoch, außer im oben genannten Fall, nicht für religiöse, sondern für politische Zwecke verwendet.

Ich kann Ihnen nicht zustimmen, dass die weiß-rot-weiße Flagge die „Flagge Christi“ ist. Christus, der Sohn Gottes und der Menschensohn, steht außerhalb der Politik. Er kam, um alle zu retten. Er hatte keine eigene Flagge, genauso wie er „keinen Ort hatte, wo er sein Haupt hinlegen konnte“ (Lk 9,58). Damit die weiß-rot-weiße Flagge nicht als extremistisch eingestuft wird, würde genügen, sie nicht zur Äußerung von politischen Ansichten zu verwenden.

Die anderen Fragen, die Sie stellen, wurden in meinen offiziellen Reden und Interviews mehrmals beantwortet. Ich wünsche Ihnen und Ihren Nächsten, dass Sie die Fastenzeit zum Wohle der Seele verbringen! Bewahren Sie Frieden, Güte und Vernunft in Ihrer Seele.

Unterschrift, durch die Gnade Gottes Metropolit Veniamin

 

Antwortschreiben von Pavel Sevjarynez an Metropolit Veniamin
Friede sei mit Ihnen, Eure Exzellenz!

Zunächst einmal vielen Dank, dass Sie sich die Zeit und Gelegenheit genommen haben, auf meinen Brief zu antworten. Viele sagten: „Es wird keine Antwort geben.“ Ihr Schreiben beweist, dass auch Sie über das Schicksal von Belarus nachdenken. Besonders jetzt, während der Fastenzeit, wenn wir unsere Herzen prüfen müssen, sie für die reinigende Wirkung des Heiligen Geistes öffnen, unsere Wege begradigen und nach der Wahrheit und Heiligkeit Gottes streben. Angesichts der Wahrheit Gottes kann ich jedoch einigen der von Ihnen geäußerten Gedanken nicht zustimmen. Sie schreiben: „In der Tat haben orthodoxe Bischöfe weiß-rot-weiße Streifen auf ihren Bischofsmänteln, die sog. „Ströme“, die als Erinnerung an das hochwürdigste Blut des Erlösers auf dem weißen Leichentuch dienen. Diese Farbkombination des Stoffes wurde jedoch, außer im oben genannten Fall, nicht für religiöse, sondern für politische Zwecke verwendet.“

Sie erkennen also immerhin, dass die Kombination von Weiß, Rot und Weiß ein Symbol für das reine Blut des Erlösers Jesus auf dem weißen Leichentuch ist. Gut. Wissenschaftler (z. B. die Historiker und Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften von Belarus, Andrej Unutschak und Juryj Batschyschtscha) bestätigen, dass gerade dieses Symbol im Lauf der 1000 Jahre belarusischer Geschichte zu unserer Nationalflagge geworden ist (1918 und 1991–1995 war sie als staatliche Flagge anerkannt) und, dass sie gerade die Auferstehung Christi symbolisiert. Vor 103 Jahren unterstützte und segnete der Heilige Patriarch Tichon die belarusische Volksrepublik unter der weiß-rot-weißen Flagge, und 1995 erkannte Metropolit Filaret von Minsk und Slutsk die Staatsflagge als Symbol des Blutes Christi auf dem weißen Leichentuch an.

Also, worin besteht das Problem, Ihre Exzellenz? Darin, dass jemand die weiß-rot-weiße Flagge für politische Zwecke benutzt? Und wenn heute jemand für politische Zwecke den Bischofsmantel benutzen würde? Würden wir ihn auch verbieten? Oder würden wir Christus selbst verbieten, wie es die Kommunisten in der Sowjetunion versucht haben?

Nachdem das belarussische Volk, empört über Gesetzlosigkeit und Verbrechen, die Flagge Christi als Symbol für Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit genommen hat, sie als Schrei zum Himmel erhoben hat, als Hoffnung, als Gebet letztendlich! – Verbieten? ... Dann werden die Steine schreien, Eure Exzellenz!

Sie schreiben von Politik. Unser Herr und Erlöser Jesus Christus wurde infolge einer erfundenen politischen Anschuldigung gekreuzigt (er habe sich selbst König der Juden genannt und sei somit Gegner des Kaisers– Joh, 19,12.15). Im letzten Jahrhundert haben die Kommunisten in Belarus Hunderte orthodoxer Geistlicher, einschließlich Bischöfe, verurteilt und erschossen. Wofür? Für „politische Aktivität“, „antisowjetische Agitation“ und „Konterrevolution“. Nicht für „Religion“, sondern für „Politik“. Wie Sie wissen, wurden bereits Dutzende von ihnen von der Belarusischen Orthodoxen Kirche heiliggesprochen. Sie wurden vernichtet, damit sie sich nicht in die „Politik“ einmischten, damit sie nicht Christus nachfolgend das Böse aufdecken.

Und wer treibt heute die Gesetzlosigkeit in Belarus an? Wer errichtet Denkmäler für Stalin, zerstört Kreuze in Kurapaty und das Leben Tausender Belarusen? Diejenigen, die die sowjetische Periode des Atheismus gutheißen. Sind Sie wirklich mit ihnen?

Es geht nicht nur um die Symbole, wie Sie es verstehen, Eure Exzellenz. Wir sprechen über die große Verantwortung der Kirche – und von Ihnen persönlich als ihr Oberhaupt – für das, was in Belarus geschieht. Im Himmel wird der Herr niemand anderes als uns Christen zur Verantwortung für dieses Land ziehen. Mit wem warst du damals, fragt der Herr jeden von uns. Mit Christus? Mit seinem Volk? Oder mit denen, die Gesetzlosigkeiten begangen haben? Mit dem Herrscher dieser Welt? Fürchtet Gott – und sonst niemanden!

Ich wünsche, dass Sie in den verbleibenden Tagen der Fastenzeit, in den Tagen des Erlöserleidens, Ihr Herz nicht für Angst, sondern für Gott öffnen. Der gekreuzigte Erlöser der Welt ist auferstanden und hinterließ den Menschen ein weißes Leichentuch mit der Spur seines reinen Blutes als Zeichen des Sieges über das Böse, die Angst und den Tod. Möge Gott in Ihrem Herzen auferstehen und auch in den Herzen derer, die nicht Licht, sondern Dunkelheit geliebt haben.

Christus ist auferstanden und Belarus wird auferstehen!

Übersetzung aus dem Belarusischen: Alena Alshanskaya.

 

Quellen:
https://belarus2020.churchby.info/pavel-sevyarynecz-prapanue-mitrapalitu-veniyaminu-vystupicz-u-abaronu-bela-chyrvona-belaga-sczyaga/

https://belarus2020.churchby.info/mitrapalit-veniyamin-adkazvae-pa%D1%9Elu-sevyaryncu-nakont-bela-chyrvona-belaga-scyaga/, 22. April 2021

https://www.facebook.com/vola.sieviaryniec, 2. Mai 2021

Bild: Die weiß-rot-weiße Flagge an einer Demonstration in Minsk am 20. September 2020. (© Homoatrox, CC BY-SA 3.0)