Interview mit Großerzbischof Svjatoslav Schevtschuk
28. Mai 2020
In diesen Tagen war ein Besuch Eurer Seligkeit in Deutschland geplant. Aber infolge der weltweiten Pandemiebeschränkungen musste der Besuch abgesagt werden. Was war der Zweck Ihres Besuchs in Deutschland?
Ich war von Renovabis, der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa, eingeladen, um an der Eröffnungszeremonie der Renovabis-Pfingstaktion teilzunehmen. Sie findet jedes Jahr in allen deutschen Pfarrgemeinden vor dem Pfingstfest statt und wird mit einem feierlichen Gottesdienst in einer Diözese begonnen. In diesem Jahr stand die Pfingstaktion unter dem Motto „Selig, die Frieden stiften. Ost und West in gemeinsamer Verantwortung“. Die Ukraine war als Schwerpunktland für dieses Jahr ausgewählt. Dabei sollten mehrere Dimensionen zur Sprache kommen: Krieg und Frieden in der Ostukraine und seine Bedeutung für den Frieden in Europa, das Verhältnis zwischen den Kirchen in der Ukraine sowie die Aufarbeitung der Vergangenheit in einer postsowjetischen Gesellschaft.
Ich war eingeladen, die aktuelle Situation in der Ukraine darzustellen, und für mich wäre es eine gute Gelegenheit gewesen, unseren Partnern für die langjährige Unterstützung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche zu danken. Denn seit seiner Gründung im Jahre 1993 hat Renovabis dazu beigetragen, unsere Kirche buchstäblich wiederaufzubauen. Ich meine damit den Wiederaufbau von Kirchengebäuden und kirchlichen Strukturen, aber auch die Lancierung zahlreicher und vielfältiger pastoraler Programme, denn unsere Kirche war bekanntlich in der Sowjetzeit in den Untergrund gedrängt und nahezu völlig vernichtet worden. Bildung, soziale Dienste und die Ausbildung von Priestern und Ordensleuten – all das wäre ohne die großzügige Unterstützung von Renovabis so nicht möglich gewesen. Aber es geht nicht nur um materielle Hilfe, sondern auch um den Austausch von Gaben und Erfahrungen. Unser besonderes Interesse gilt der Hilfe der deutschen Katholiken im Versöhnungsprozess und beim Wiederaufbau des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die zentralen Themen der diesjährigen Renovabis-Pfingstaktion sind die Friedenskonsolidierung und der Fortschritt des Friedensprozesses in der Ostukraine, doch momentan ist die Welt vor allem mit der Corona-Pandemie beschäftigt. Gerät darüber die Situation in der Ukraine in Vergessenheit?
Der Ausbruch von Covid-19 zeigt deutlich, dass globale Herausforderungen kollektives Handeln erfordern. Die Pandemie ist eine Prüfung für die gesamte Menschheit. Sie offenbart die Verflechtungen der Welt. Wir sitzen alle im selben Boot. Die gegenwärtige Krise erschüttert die Grundfesten unserer Gesellschaften und macht die Verwundbarkeit der schwächsten Länder, darunter natürlich auch der Ukraine, deutlich. In diesem Sinne hat die Ukraine mit drei Problemen zu kämpfen: der weltweit grassierenden Coronavirus-Pandemie, der Wirtschaftskrise, die unser Land als Ganzes hart treffen wird, und der Entwicklung einer Wirtschaft, die angesichts des Krieges in der Ostukraine auf internationale Unterstützung angewiesen ist.
Jeden Tag erhalten wir traurige Nachrichten, dass jemand getötet wurde, und das ist eine echte Tragödie für uns. Angesichts der Überschattung durch andere globale Herausforderungen wächst dieser Schmerz immer mehr. Nur weil man in den Nachrichten in Berlin oder München nichts darüber hört, bedeutet das nicht, dass der Krieg aufgehört hat. Frieden in der Ukraine ist möglich, wenn die Frage der Gerechtigkeit unter gebührender Berücksichtigung des internationalen Kriegsvölkerrechts diskutiert wird. Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern er beinhaltet auch eine spirituelle Kategorie. Frieden und Vergebung sind meines Erachtens die Schlüssel, um die heutige Situation in der Ukraine zu deuten und zu verstehen.
Während Ihres geplanten Besuchs in Deutschland waren auch einige offizielle Treffen mit staatlichen Vertretern vorgesehen. Was wäre Ihre Botschaften an die Politik und die Zivilgesellschaft in Deutschland gewesen?
Der ukrainische Staat ist eine Garantie für den Frieden in Europa. Durch die Unterstützung einer unabhängigen und souveränen Ukraine hofft die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche zu echter Versöhnung und Friedensbildung beizutragen. Die Ukraine setzt den Prozess der Versöhnung zwischen den Völkern Osteuropas fort und trägt damit auch zu einer Annäherung an die Regionen weiter im Osten bei. Die Verletzung grundlegender Menschenrechte der ukrainischen Bürger auf der Krim und in den weiterhin besetzten Gebieten im Donbass darf bei der Konzeption unterschiedlicher Friedensinstrumente keineswegs vernachlässigt werden. Seit einigen Jahren unternimmt die gesamte ukrainische Gesellschaft große Anstrengungen zur Verteidigung ihrer Rechte auf Frieden und friedliche Koexistenz. In besonderer Weise verteidigt das ukrainische Militär den Frieden in der Ukraine und in Europa, koste es, was es wolle.
Am 9. Mai wurde der 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung begangen, die der Ausgangspunkt der heutigen Europäischen Union ist. Eine von Schumans Ideen war, durch die Verschmelzung wirtschaftlicher Interessen einen dauerhaften Frieden in Europa zu erreichen. Zudem gibt es den berühmten Satz von Jacques Delors „Europa eine Seele geben“. Eure Seligkeit, was bedeutet dieses europäische Projekt Ihrer Meinung nach heute? Glauben Sie, dass es für die Ukrainer immer noch ein Ansporn ist?
Das europäische Projekt basierte von Anfang an auf den Werten Solidarität, Offenheit, Freiheit, der Achtung der Rechtsstaatlichkeit sowie auf der Stärkung von globaler Zusammenarbeit. Den Kampf gegen ein Virus, das keine Grenzen kennt, aber auch gegen militärische Konflikte und Kriege auf dem europäischen Kontinent zu gewinnen, ist unmöglich, wenn die persönlichen Interessen der Mitgliedsstaaten über das Gemeinwohl dominieren, und wenn die internationale Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, nicht respektiert wird. Man darf nicht schweigen, wenn jemand in der Nachbarschaft die Weltkarte verändert, denn morgen könnte einem dasselbe passieren. Aggressoren müssen durch eine klare Haltung und gemeinsame Aktionen gestoppt werden. In der gegenwärtigen Krise sieht es so aus, als ob sich die Europäische Union von ihren Gründungsprinzipien, nämlich Einheit und Solidarität, entfernt hat. Aber ich bin mir sicher, dass dies nicht von Dauer ist und das Fundament der Europäischen Union wieder aufgebaut werden wird.
Gibt es für die Ukraine einen Platz in dieser Gemeinschaft der europäischen Staaten?
Die Ukraine ist ein Friedensprojekt und bedeutet Zusammenarbeit und Solidarität. Das Land hat während des Majdan, der sog. „Revolution der Würde“, eine klare Entscheidung für eine Zukunft in Europa getroffen. Und diese Entscheidung wurde nicht nur durch politische Erklärungen und offizielle Dokumente bestätigt, sondern auch durch das Blutvergießen der Menschen auf dem Majdan. Ganz gleich, wie die Politiker handeln, ich glaube, das ukrainische Volk wird die Entscheidung für Europa mit aller Kraft verteidigen.
Bild: Großerzbischof Svjatoslav Schevtschuk ist seit 2011 das Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. (© Thomas Schumann)
Ich war von Renovabis, der Solidaritätsaktion der deutschen Katholiken mit den Menschen in Mittel- und Osteuropa, eingeladen, um an der Eröffnungszeremonie der Renovabis-Pfingstaktion teilzunehmen. Sie findet jedes Jahr in allen deutschen Pfarrgemeinden vor dem Pfingstfest statt und wird mit einem feierlichen Gottesdienst in einer Diözese begonnen. In diesem Jahr stand die Pfingstaktion unter dem Motto „Selig, die Frieden stiften. Ost und West in gemeinsamer Verantwortung“. Die Ukraine war als Schwerpunktland für dieses Jahr ausgewählt. Dabei sollten mehrere Dimensionen zur Sprache kommen: Krieg und Frieden in der Ostukraine und seine Bedeutung für den Frieden in Europa, das Verhältnis zwischen den Kirchen in der Ukraine sowie die Aufarbeitung der Vergangenheit in einer postsowjetischen Gesellschaft.
Ich war eingeladen, die aktuelle Situation in der Ukraine darzustellen, und für mich wäre es eine gute Gelegenheit gewesen, unseren Partnern für die langjährige Unterstützung der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche zu danken. Denn seit seiner Gründung im Jahre 1993 hat Renovabis dazu beigetragen, unsere Kirche buchstäblich wiederaufzubauen. Ich meine damit den Wiederaufbau von Kirchengebäuden und kirchlichen Strukturen, aber auch die Lancierung zahlreicher und vielfältiger pastoraler Programme, denn unsere Kirche war bekanntlich in der Sowjetzeit in den Untergrund gedrängt und nahezu völlig vernichtet worden. Bildung, soziale Dienste und die Ausbildung von Priestern und Ordensleuten – all das wäre ohne die großzügige Unterstützung von Renovabis so nicht möglich gewesen. Aber es geht nicht nur um materielle Hilfe, sondern auch um den Austausch von Gaben und Erfahrungen. Unser besonderes Interesse gilt der Hilfe der deutschen Katholiken im Versöhnungsprozess und beim Wiederaufbau des Landes nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die zentralen Themen der diesjährigen Renovabis-Pfingstaktion sind die Friedenskonsolidierung und der Fortschritt des Friedensprozesses in der Ostukraine, doch momentan ist die Welt vor allem mit der Corona-Pandemie beschäftigt. Gerät darüber die Situation in der Ukraine in Vergessenheit?
Der Ausbruch von Covid-19 zeigt deutlich, dass globale Herausforderungen kollektives Handeln erfordern. Die Pandemie ist eine Prüfung für die gesamte Menschheit. Sie offenbart die Verflechtungen der Welt. Wir sitzen alle im selben Boot. Die gegenwärtige Krise erschüttert die Grundfesten unserer Gesellschaften und macht die Verwundbarkeit der schwächsten Länder, darunter natürlich auch der Ukraine, deutlich. In diesem Sinne hat die Ukraine mit drei Problemen zu kämpfen: der weltweit grassierenden Coronavirus-Pandemie, der Wirtschaftskrise, die unser Land als Ganzes hart treffen wird, und der Entwicklung einer Wirtschaft, die angesichts des Krieges in der Ostukraine auf internationale Unterstützung angewiesen ist.
Jeden Tag erhalten wir traurige Nachrichten, dass jemand getötet wurde, und das ist eine echte Tragödie für uns. Angesichts der Überschattung durch andere globale Herausforderungen wächst dieser Schmerz immer mehr. Nur weil man in den Nachrichten in Berlin oder München nichts darüber hört, bedeutet das nicht, dass der Krieg aufgehört hat. Frieden in der Ukraine ist möglich, wenn die Frage der Gerechtigkeit unter gebührender Berücksichtigung des internationalen Kriegsvölkerrechts diskutiert wird. Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg, sondern er beinhaltet auch eine spirituelle Kategorie. Frieden und Vergebung sind meines Erachtens die Schlüssel, um die heutige Situation in der Ukraine zu deuten und zu verstehen.
Während Ihres geplanten Besuchs in Deutschland waren auch einige offizielle Treffen mit staatlichen Vertretern vorgesehen. Was wäre Ihre Botschaften an die Politik und die Zivilgesellschaft in Deutschland gewesen?
Der ukrainische Staat ist eine Garantie für den Frieden in Europa. Durch die Unterstützung einer unabhängigen und souveränen Ukraine hofft die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche zu echter Versöhnung und Friedensbildung beizutragen. Die Ukraine setzt den Prozess der Versöhnung zwischen den Völkern Osteuropas fort und trägt damit auch zu einer Annäherung an die Regionen weiter im Osten bei. Die Verletzung grundlegender Menschenrechte der ukrainischen Bürger auf der Krim und in den weiterhin besetzten Gebieten im Donbass darf bei der Konzeption unterschiedlicher Friedensinstrumente keineswegs vernachlässigt werden. Seit einigen Jahren unternimmt die gesamte ukrainische Gesellschaft große Anstrengungen zur Verteidigung ihrer Rechte auf Frieden und friedliche Koexistenz. In besonderer Weise verteidigt das ukrainische Militär den Frieden in der Ukraine und in Europa, koste es, was es wolle.
Am 9. Mai wurde der 70. Jahrestag der Schuman-Erklärung begangen, die der Ausgangspunkt der heutigen Europäischen Union ist. Eine von Schumans Ideen war, durch die Verschmelzung wirtschaftlicher Interessen einen dauerhaften Frieden in Europa zu erreichen. Zudem gibt es den berühmten Satz von Jacques Delors „Europa eine Seele geben“. Eure Seligkeit, was bedeutet dieses europäische Projekt Ihrer Meinung nach heute? Glauben Sie, dass es für die Ukrainer immer noch ein Ansporn ist?
Das europäische Projekt basierte von Anfang an auf den Werten Solidarität, Offenheit, Freiheit, der Achtung der Rechtsstaatlichkeit sowie auf der Stärkung von globaler Zusammenarbeit. Den Kampf gegen ein Virus, das keine Grenzen kennt, aber auch gegen militärische Konflikte und Kriege auf dem europäischen Kontinent zu gewinnen, ist unmöglich, wenn die persönlichen Interessen der Mitgliedsstaaten über das Gemeinwohl dominieren, und wenn die internationale Ordnung, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurde, nicht respektiert wird. Man darf nicht schweigen, wenn jemand in der Nachbarschaft die Weltkarte verändert, denn morgen könnte einem dasselbe passieren. Aggressoren müssen durch eine klare Haltung und gemeinsame Aktionen gestoppt werden. In der gegenwärtigen Krise sieht es so aus, als ob sich die Europäische Union von ihren Gründungsprinzipien, nämlich Einheit und Solidarität, entfernt hat. Aber ich bin mir sicher, dass dies nicht von Dauer ist und das Fundament der Europäischen Union wieder aufgebaut werden wird.
Gibt es für die Ukraine einen Platz in dieser Gemeinschaft der europäischen Staaten?
Die Ukraine ist ein Friedensprojekt und bedeutet Zusammenarbeit und Solidarität. Das Land hat während des Majdan, der sog. „Revolution der Würde“, eine klare Entscheidung für eine Zukunft in Europa getroffen. Und diese Entscheidung wurde nicht nur durch politische Erklärungen und offizielle Dokumente bestätigt, sondern auch durch das Blutvergießen der Menschen auf dem Majdan. Ganz gleich, wie die Politiker handeln, ich glaube, das ukrainische Volk wird die Entscheidung für Europa mit aller Kraft verteidigen.
Bild: Großerzbischof Svjatoslav Schevtschuk ist seit 2011 das Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche. (© Thomas Schumann)