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Georgische Orthodoxe Kirche trotzt den staatlichen Vorgaben

30. April 2020
Das orthodoxe Osterfest am 19. April fiel diesmal mitten die Coronavirus-Pandemie. Wie hat die Georgische Orthodoxe Kirche diesen wichtigen Feiertag begangen?
Das kirchliche Leben ging trotz der Ausgangssperre weiter, nur wenige Priester im ganzen Land schlossen ihre Kirchen für die Osterfeiern. Die Gotteshäuser während der Epidemie offen zu halten, wurde zum wichtigsten Ziel der Georgischen Orthodoxen Kirche (GOK). Ungeachtet zahlreicher Warnungen von führenden medizinischen Experten drängten die ranghöchsten Geistlichen die Gläubigen, in die Kirche zu kommen. Priester baten Gemeindemitglieder, sich in der Kirche zu versammeln, bevor die nächtliche Ausgangssperre beginnt (21:00 – 6:00 Uhr), und über Nacht in der Kirche zu bleiben. Während dieser Zeit versprach die Kirche, soziale Distanz zu wahren. Doch viele führende Gesundheitsexperten hielten es für unmöglich, die Abstandsregeln unter diesen Umständen einzuhalten. Allein die Tatsache, dass die Gemeindemitglieder die Kommunion mit demselben Löffel empfangen, erhöht die Verbreitung der Coronavirus-Infektion bedeutend.

Dies wirft die Frage nach der Reaktion der georgischen Regierung auf: Warum lässt die Regierung die Kirche die Gesetze missachten, während sie gewöhnliche Bürger für kleinere Verstöße gegen die Lockdown-Restriktionen streng bestraft? Es gibt mindestens zwei plausible Antworten für die Doppelzüngigkeit der Regierung: Erstens braucht die Regierung noch immer die Unterstützung der Kirche für die kommenden Wahlen. Zweitens fürchtete die Regierung öffentliche Proteste inmitten der Pandemiekrise, weil einige Bischöfe offen konfrontativ auftreten und mit ihren Aussagen das politische System untergraben. Jeglicher entschlossene Schritt seitens der Regierung hätte eine unkontrollierte Folge von Ereignissen auslösen können.

Wie geht die Georgische Orthodoxe Kirche generell mit der Coronavirus-Situation um?
Trotz Petitionen, Bitten, Forderungen und Warnungen von zahlreichen medizinischen Fachleuten und Vertretern der Zivilgesellschaft setzt die GOK ihre regelmäßigen Gottesdienste und die Kommunionspendung mit dem gleichen Löffel fort. Die Löffeltradition entwickelte sich in den östlichen Kirchen im 11. Jahrhundert zu einem Brauch. Das Christentum hat eine lange Tradition des Umgangs mit Pandemien, dabei hat es immer die Rituale den menschlichen Bedürfnissen angepasst. Natürlich könnte die GOK eine Veränderung dieses Rituals theologisch rechtfertigen, aber sie spielt weiterhin mit der Gesundheit der Menschen. Bemerkenswert ist, dass die GOK ihre Eparchien in Ländern mit strikten Ausgangsbeschränkungen (z. B. USA, Großbritannien), geschlossen hat. Das wirft eine weitere Frage auf. Wenn Eparchien im Ausland sich anpassen und zum Wohl der öffentlichen Gesundheit zumachen können, warum können sie dann in Georgien nicht schließen? Es scheint, als würde die Kirche die Ausgangssperren in den Ländern beachten, in denen sie weniger mächtig als der Staat ist. In Georgien ist das Gegenteil der Fall. Die säkulare Identität des georgischen Staates ist instabil. Alle bisherigen Regierungen Georgiens haben verschiedene Formen des Klientelismus betrieben, die diese Institution politisch ermächtigten. Die Kirche testet scheinbar die säkularen Grenzen des Staates, traurigerweise auf Kosten der menschlichen Sicherheit. Die Aussagen vieler hochrangiger Bischöfe spielen auf verschiedene Art die Bedrohung durch Covid-19 herunter. Insbesondere verfügte Patriarch Ilia (Schiolaschwili), der die höchste Autorität im Land darstellt, keine Schließung der Kirchen. Im Gegenteil, in seiner Osterpredigt dankte er den Gemeindemitgliedern, dass sie weiterhin in die Kirche kämen, und zeigte sich glücklich, dass die Kirchen weiterarbeiteten. Aufgrund ihres Einflusses und ihrer öffentlichen Position könnten die Aussagen hochrangiger Bischöfe, dass die Kommunion das Coronavirus heilt oder Messwein starken Alkohol enthält, in dem Krankheitserreger abgetötet werden, schreckliche Folgen für die georgische Gesellschaft haben.

Die orthodoxe Kirche genießt in Georgien großen Respekt, aber ihre Haltung in der Coronavirus-Situation hat ernsthafte Kritik hervorgerufen. Wie geht die Kirche mit der Kritik um, und wird das ihre Position in der Gesellschaft beeinflussen?
Während der letzten 30 Jahre hatte die Kirche Mühe, Kritik zu akzeptieren, ohne ihre Gegner direkt zu bedrohen oder Kritiker zu dämonisieren. Die Auswirkungen des Umgangs der Kirche mit dem Coronavirus auf ihr Image hängen vor allem vom Ausmaß der Pandemie ab. Es ist unmöglich, jetzt seriöse Vorhersagen zu machen. Auch wenn die Epidemie nicht schwerwiegend verlaufen sollte – und bisher erlauben die Fallzahlen einen vorsichtigen Optimismus –, wird die Kirche trotzdem von einem bedeutenden Teil der Gesellschaft schwierige Fragen gestellt bekommen. Und dennoch könnte sie sogar gestärkt und politisch einflussreicher aus der Krise herauskommen. Warum? Weil wenn die Kirche während einer Pandemie, die Tausende Menschenleben bedroht, dem Gesetz trotzt, wann wird sie das nicht? Wenn allerdings die Covid-19-Fälle wie in vielen europäischen Staaten exponentiell wachsen, kann nur spekuliert werden, zu was die Organisation der GOK fähig ist, um ihren Status und ihre Interessen zu schützen. Wird sie sich bei den kommenden Wahlen mit extrem konservativen oppositionellen Kräften verbünden? Wird sie das demokratische System herausfordern und für ein „effizienteres“ autokratisches System plädieren – ein Diskurs, der in vielen konservativen Kreisen vorherrscht? Nur Gott weiß es. Mich würde nichts mehr überraschen.

Tornike Metreveli, PhD, Soziologe und Postdoc an der Universität St. Gallen.

Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.

Bild: Die Swetizchoweli-Kathedrale in Mzcheta, die wie die meisten georgischen Kirchen an Ostern geöffnet war. (© Stefan Kube)