Hannah Laue OP über den Papstbesuch in Lettland

20. September 2018

Vor welchen kirchlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen stehen die Katholiken in Lettland?

Eine der größten Herausforderungen, vor denen wir im Moment in Lettland stehen, ist, dass es durch die jahrelange starke Auswanderung nun zu einem großen Arbeitskraftmangel kommt. Mehrere große Marken wie Lidl oder IKEA eröffnen momentan Filialen in Lettland, aber schon jetzt haben es die großen Einkaufscentren schwer, genügend Arbeitskräfte zu finden. Ein Grund sind dabei auch die Löhne und die Steuern. Das Sozialversicherungssystem und das Rentensystem befinden sich noch im Aufbau. Viele Menschen haben das Land zum Arbeiten verlassen, was dazu führt, dass weniger Geld in die Kassen kommt. Zum anderen gibt es aber auch eine Art Grundmisstrauen, ob die Gelder, die man einzahlen soll, nicht einfach in private Taschen wandern. Daher können viele Leistungen, die man sich für die Zukunft erhofft, noch nicht finanziert werden, was es erschwert, die positiven Auswirkungen der Versicherung erlebbar zu machen. Auch die Löhne für Ärzte und medizinisches Personal im Allgemeinen hängen damit zusammen und damit natürlich auch die Frage nach der Gestaltbarkeit des eigenen Lebens.

Für die Katholiken in Lettland ist sicher eine der größten Herausforderungen die Rolle der Gläubigen bei der Entwicklung des Landes. Insbesondere bei der Erziehung vom Kindergarten bis zur Universität und in der Politik beispielsweise mit Blick auf die Sorge des Staates für die Menschen, die leicht ins Abseits geraten.

Innerkirchlich geschieht viel, was es Laien ermöglicht, sich in der Pastoral zu professionalisieren und das eigene Glaubensleben auch wissenschaftlich-theologisch zu durchdringen. Das RARZI (Religionswissenschaftliches Institut der katholischen Kirche Lettlands) in Riga spielt bei der Begegnung all dieser Herausforderungen eine wichtige Rolle. Ein wichtiger Schritt war dabei auch die Übersetzung der gesamten Texte des Zweiten Vatikanischen Konzils, so dass pünktlich zum 50. Jahrestag die Texte für alle lettischen Gläubigen verständlich gemacht werden konnten.

Wie in vielen anderen Ländern auch ist die Familie und deren Sicherheit und Verlässlichkeit für Heranwachsende ein großes Anliegen, das Kirche und Staat teilen.

Eine große Herausforderung liegt auch darin, sich im wissenschaftlichen Diskurs zu positionieren und qualifiziert einen christlichen Gesichtspunkt einzubringen, was den Kontakt und die mögliche Zusammenarbeit mit kirchen- und glaubensfernen Mitbürgern sicherlich erheblich voranbringen würde.

Auch die Ökumene ist in Lettland immer wieder ein großes Thema. Die Evangelisch-Lutherische Kirche Lettlands ist der katholischen Kirche in vielen Dingen sehr nah. Als sich diese 2016 gegen die Frauenordination entschied, hat das unter den Gläubigen beider Konfessionen sehr unterschiedliche Gefühle ausgelöst, und es ist eine wichtige Aufgabe, mit denen einen den Schmerz und mit den anderen eventuelle Freude in Achtsamkeit vor den jeweils anderen zu teilen.

Welche Hoffnungen verbinden die Katholiken mit dem Papstbesuch?

Die Hoffnungen sind sehr weit gefächert. Die einen hoffen, dass der Besuch zu einer Art Bekehrungswelle führen wird, die alle Christen wachrüttelt und alle oder doch die meisten Nicht-Christen dazu bewegt, sich der Kirche anzuschließen. Die anderen, ebenfalls ein Extrem, betrachten das Ereignis mit Gleichgültigkeit oder vertreten die Auffassung, dass die Gelder, die im Zusammenhang mit dem Besuch ausgegeben werden, besser in das Schulsystem, Lehrer- und Medizinergehälter oder die Rentenkassen, Kinderheime und Versicherungen gesteckt würden. In diesen Bereichen ist die Not noch groß, auch wenn sich die Gesamtsituation gegenüber dem großen Krisenjahr 2008 deutlich verbessert hat.

Eine Hoffnung, die Katholiken, Christen und Nicht-Christen zu teilen scheinen, ist, dass dieser Besuch einen positiven Impuls geben wird, sich gemeinsam für den Erhalt moralischer Werte, den Kampf gegen Korruption, und die Entwicklung des Sozialstaates einzusetzen.

Gerade weil der Besuch mit dem 100. Geburtstag des Staates Lettland verbunden ist, wird der Besuch einerseits als ein Segen des bisher Erreichten gesehen und andererseits soll er dem Fundament für nächsten Jahre und Jahrhunderte in Freiheit Halt und Ausrichtung verleihen. Auch von staatlicher Seite werden diese Wertschätzung Lettlands und der Impuls zum tatkräftigen Einsatz für den weiteren Aufbau des Landes und Staates mit Blick auf den Papstbesuch betont.

Papst Franziskus wird eine Messe am Marienheiligtum Aglona feiern. Welche Rolle spielt dieser Marienwallfahrtsort in Lettland?

Das Marienheiligtum in Aglona ist ein Ort nationaler Identitätsbildung. Bei der jährlichen Wallfahrt zum Festtag der Aufnahme Mariens in den Himmel am 15. August machen sich immer wieder viele Menschen aus ganz Lettland auf den Weg – und längst nicht alle sind Katholiken! Einer der wichtigsten Bestandteile der Feierlichkeiten rund um diesen Tag ist der gemeinsame Kreuzweg, der in der Vigil -Feier am Vorabend gemeinsam gebetet wird. Sowohl das Militär als auch der Präsident sind hierbei immer anwesend und nehmen als Pilger daran teil. Den identitätsbildenden Aspekt kann man besonders deutlich daran erkennen, dass neben dem päpstlichen Nuntius auch der Präsident am Festtag eine Ansprache an das versammelte Volk richtet. Die Festmesse und die Ansprachen werden im staatlichen Fernsehen übertragen, so dass alle, auch die, die über die Pilger verständnislos den Kopf schütteln, die Chance haben die Ansprachen zu hören.

Für viele Menschen ist der Name „Aglona“ gleichbedeutend mit der geistigen Verwurzelung im Land, denn dieser Ort war insbesondere in den Jahren der Okkupation eine Kraftquelle für viele. Das Marienbild trägt den Titel „Zeige dich als Mutter!“ – dieser Titel steht als Motto auch über dem Papstbesuch in Lettland und drückt damit die Sehnsucht der Letten aus, die sie mit ihrem Land, das auch Terra Mariana ist, verbinden. Bei der Mutter ist die Heimat und hier steht die Maria von Aglona emotional sicherlich auch ein Stück für das Beheimatet Sein in Lettland. Auch wenn durch das Jahr hindurch das Bewusstsein verblasst und nur wenig Pilger kommen, so ist diese jährliche Rückbesinnung doch ein tragender Bestandteil der emotionalen Verbundenheit untereinander und des Stolzes auf Glauben und Staat.

Wie gestaltet sich das Ordensleben in Lettland?

Es gibt in Lettland insgesamt 133 Ordensfrauen und 33 Ordensmänner, die sich auf vier Sekularinstitute sowie bei den Frauen auf 11 Kongregationen und bei den Männern auf acht Kongregationen verteilen. Die meisten von ihnen sind erst nach 1993 nach Lettland gekommen, und unter den Ordensleuten sind neben den Letten viele andere Nationalitäten vertreten.

Viele Kongregationen haben mehrere Niederlassungen im Land, das bedeutet allerdings nicht, dass es sich immer um deren Klostergebäude handelt. Bewohnt wird alles, von der Mietswohnung über Häusern und Wohnungen, die der Gemeinde gehören, bis hin zu eigenen Wohnungen oder Häusern. Oftmals verbindet sich für die Männergemeinschaften ihre Niederlassung mit Verantwortung für eine Pfarrkirche bzw. die umliegenden Gemeinden, daher kommt es erstaunlich oft vor, dass Ordensmänner, obwohl eigentlich zum Gemeinschaftsleben berufen, alleine leben und die Betreuung ländlicher Gemeinden übernehmen. Bei den Frauengemeinschaften sind die kleinen Gruppen häufiger als eine große Anzahl von zehn und mehr Schwestern. Was die apostolischen Tätigkeiten der verschiedenen Gemeinschaften betrifft, spiegeln diese natürlich die verschiedenen Charismen der Orden wider: Etwa die Gemeindearbeit als Unterstützung des Pfarrers wie bei den Karmelitinnen vom Kinde Jesus, die Konzentration auf verschiedene Exerzitienangebote bei den Jesuiten oder die Gefängnisseelsorge und Frauen in Not wie bei uns, den Dominikanerinnen von Bethanien. Manche Schwestern arbeiten auch als Seelsorgerin, Psychologin oder bei verschiedenen Filialen der Caritas als Sozialarbeiterinnen. Die meisten sind in irgendeiner Form in der Katechese engagiert, in der Sonntagsschule zur Vorbereitung auf die Sakramente und zur Vertiefung des Glaubens, im Bibelstudium für Erwachsene, in der Vorbereitung von Paaren auf die Ehe oder bei Angeboten für Verheiratete und in vielen anderen „Sonderseelsorgebereiche“.

Seit 2012 gibt es in Lettland offiziell die Konferenz der Ordensleute, auch wenn es nicht, wie sonst übliche eine Konferenz der OrdensoberInnen ist, da keine der in Lettland vertretenen Gemeinschaften hier ihr Generalat oder das Mutterhaus hat. Dieser wichtige Schritt ist Ausdruck eines langen Weges zueinander, den die Gemeinschaften gegangen sind, nachdem sie nach Lettland kamen. Seither ist das Miteinander gewachsen, und es gibt immer wieder gemeinsame Initiativen, was uns dabei hilft, in Kirche und Gesellschaft als gemeinsame Größen und nicht als Konkurrenten wahrgenommen zu werden. Auch wächst der Zusammenhalt in einer Weise, die es ermöglicht, gegenseitig von Erfahrungen und anderen Ressourcen zu profitieren und so den Menschen vor Ort besser dienen zu können.
Was den Ordensnachwuchs in Lettland betrifft, sollte man nicht vergessen, dass Lettland weniger als zwei Mio. Einwohner hat, wovon etwa 20% Katholiken sind. Von diesen 400.000 Menschen hat selbstverständlich der größere Teil eine Berufung zum Eheleben. Die Tendenz, dass viele junge Menschen das Land verlassen haben, ist auch bei den Ordensberufungen deutlich spürbar, aber es gibt auch neue „original lettische“ Berufungen.

Hannah Laue OP ist Generalrätin der Dominikanerinnen von Bethanien, Priorin der Gemeinschaft in Lettland.