Beobachtungen aus Sumy zum innerorthodoxen Konflikt

20. April 2023

Georgij Taraban

Momentan befinden sich die Religionsgemeinschaften in der Oblast Sumy in einem Zustand extremer Spannungen, der sich zu offener Konfrontation und Aggression verschärfen könnte. Die Geistlichen und Gläubigen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) in der Oblast Sumy verstehen sich als Opfer von Aggression und Übergriffen nicht nur seitens der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU), sondern auch seitens der zentralen und lokalen staatlichen Behörden und zivilgesellschaftlicher Organisationen. In den Fällen von Übertritten von Geistlichen und Gemeinden der UOK zur OKU werden konkrete Fakten wie Drohungen, Druck, die Schaffung einer künstlichen Situation von „Alternativlosigkeit“ sowie der Unmöglichkeit, satzungsgemäß vorzugehen, geleugnet. Aufgrund der illegalen Tätigkeit einzelner Geistlicher und Gläubiger, gegen die entsprechend der ukrainischen Gesetzgebung Sanktionen verhängt wurden, wird das Prinzip der „kollektiven Verantwortung“ für ausnahmslos alle Mitglieder der UOK aktiv durchgesetzt. Die Folge ist eine Eskalation, bei der eine bedeutende Anzahl ukrainischer Bürger ohne gesetzliche Grundlage unter Druck gesetzt wird. Von den Medien wird das jedoch als „Willensäußerung einfacher Leute“ dargestellt, obwohl die Mehrheit von ihnen faktisch gar keiner Religionsgemeinschaft angehört.

Tatenlose UOK-Hierarchie
Bereits am ersten Kriegstag brachte Metropolit Jevlohij (Huttschenko) von Sumy und Ochtyrka seine Haltung zu den Ereignissen klar zum Ausdruck und kündigte an, Patriarch Kirill von Moskau in den Gottesdiensten nicht mehr zu kommemorieren. Diese von ihm initiierte Praxis wurde später auch vom Konzil der UOK beschlossen. Allerdings akzeptierten nicht alle Geistlichen der Eparchie Sumy diesen Entscheid, einige kommemorieren den Patriarchen noch immer. In der Folge kam es zu einer Diskussion über die Richtigkeit dieser Entscheidung, was der Eparchie letztlich geschadet hat.

Im Mai 2022 fand in der Eparchie Sumy eine Versammlung der Geistlichen statt, bei der aus den Geistlichen, Mönchen und Nonnen und Laien die Delegierten für das Konzil der UOK ausgewählt wurden. Die Prozeduren zur freien Meinungsäußerung wurden genau eingehalten. Dabei zeigte sich laut einer anonymen Umfrage, dass mehr als ein Drittel der Geistlichen die Bewahrung der Einheit mit der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) befürwortete.

Die Entscheidungen des Konzils der UOK vom 27. Mai 2022 eröffneten neue Perspektiven für einen konstruktiven Aufbau des kirchlichen Lebens unter den neuen Bedingungen des Kriegs gegen Russland sowie für einen Dialog mit Befürwortern einer interorthodoxen Zusammenarbeit. Doch es folgten keine nennenswerten Maßnahmen. Die Hierarchen unternahmen in den nächsten Monaten keine Schritte zu einer Umsetzung der Konzilsbeschlüsse. Erst im September schickte beispielsweise Metropolit Jevlohij der Lokalregierung und dem Bürgermeister von Sumy Briefe mit Erklärungen zu den Entscheidungen des Konzils, als die Situation aufgrund der fehlenden Schritte zur Verwirklichung der angekündigten Ziele schon aufgeheizt war.

Im Herbst 2022 entschieden einige Geistliche der Eparchie Sumy zusammen mit ihren Kirchgemeinden zur OKU überzutreten, weil es keine echten Maßnahmen zur Trennung vom Moskauer Patriarchat gab. In einigen Ortschaften wurden Geistliche mit Druck und Drohungen bedrängt, „friedlich“ zur OKU „überzutreten“. Die anhaltende Untätigkeit wurde von ungeschickten Erklärungen der Kirchenleitung der UOK begleitet, warum keine Schritte zur Bildung einer neuen Form der UOK unternommen würden. Gleichzeitig belegte der Staat eine Reihe Hierarchen mit Sanktionen, darunter Metropolit Antonij (Pakanitsch), den Leiter der Kirchenverwaltung, und Metropolit Pavlo (Lebid), den Vorsteher des Kyjiwer Höhlenklosters. Die skandalösen Aussagen von Metropolit Pavlo, die regelmäßig Gegenstand heftiger Diskussionen in den Medien sind, haben ein negatives Image geschaffen, das die Situation stetig verschlimmerte.

OKU-Hierarchie gießt Öl ins Feuer
Die Predigt von Metropolit Jevlohij vom 19. März 2023, in der er den Präsidenten und Regierungsvertreter scharf kritisierte, sollte Metropolit Pavlo und die Kyjiwer Lavra unterstützen. Doch die Aussagen des Bischofs der Eparchie Sumy wurden als illegale Handlungen eingestuft, so dass eine Reihe Geistlicher vom Inlandgeheimdienst zu Verhören vorgeladen wurden. Am 4. April 2023 beschloss der Regionalrat von Sumy, die Nutzungs- und Mietverträge für alle Kirchgemeinden der UOK in der Oblast Sumy zu kündigen. Eine Online-Petition mit antikirchlichem Inhalt sammelte innerhalb eines Tages die nötige Anzahl an Unterschriften. Der Zusammenhang zwischen den Handlungen des Bischofs und den anschließenden Sanktionen der Behörden ist unübersehbar.

Unter diesen Umständen forderte Metropolit Jevlohij die Gläubigen auf, die Kirchen des Bischofssitzes vor Übernahmeversuchen zu schützen. Kein einziger Anwalt war bereit, die Eparchie Sumy juristisch zu vertreten. Anonym bleiben wollende Gesprächspartner aus dem Justizbereich berichteten, dass Anwälten andernfalls mit dem Entzug ihrer Anwaltslizenz gedroht worden sei. Gleichzeitig erklärte der Erzbischof der OKU in der Region Sumy, Mefodij (Srybnjak), öffentlich, dass die Ansprüche der OKU auf das kirchliche Eigentum der UOK-Gemeinden gerechtfertigt seien, und rechtfertigte weitere Pläne zu Enteignung von Kirchen zugunsten der OKU. Das Video wurde auf dem staatlichen Fernsehkanal und in den sozialen Netzwerken verbreitet. Eine solche Rhetorik widerlegt einen konstruktiven Charakter der Absichten der Leitung der OKU in der Region Sumy. Derartige Aussagen werden gleichzeitig mit Videoreportagen über die Beschlagnahme von Kirchen in verschiedenen Regionen der Ukraine veröffentlicht, deren Zahl rasch steigt, was keinen Zweifel an den räuberischen Absichten des Hierarchen der OKU in Sumy lässt.

Eine ähnliche Rhetorik der OKU-Hierarchen gibt es auch auf gesamtukrainischer Ebene: Erklärungen über die Alternativlosigkeit des Übertritts zur OKU, Rechtfertigungen von Ansprüchen auf Kircheneigentum, an dessen Bau oder Erwerb die OKU nicht beteiligt war, eine ständige Verzerrung statistischer und faktischer Daten, die tendenziöse Suche nach realen und ausgedachten Anschuldigungen, die Beteiligung an unbegründeter Hetze gegen Geistliche und Laien. Aus einzelnen Vorfällen, die illegale Handlungen einzelner Personen betreffen (deren Anzahl sich statistisch nicht von der anderer Gemeinschaften unterscheidet), werden verallgemeinernde Schlüsse über die Kriminalität aller ukrainischen Bürger, die zur UOK angehören, gezogen. Angesichts dieser Situation wurde in der Eparchie Sumy eine Reihe von Notfallmaßnahmen getroffen (ähnlich wie bei Naturkatastrophen). Die Geistlichkeit und die Gläubigen befinden sich in einem Zustand ständiger Gefährdung.

Gefangen in einer Konfliktspirale
Aus dem Geschilderten ergibt sich:

  1. In der Eparchie Sumy hat sich eine präzedenzlose interkonfessionelle Spannung entwickelt, die jederzeit in offene Gewalt aus religiösen Gründen umschlagen kann. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass eine solche Entwicklung unmöglich ist.
  2. Falsche Entscheidungen, fehlerhafte öffentliche Handlungen und Erklärungen der UOK-Hierarchen auf regionaler und nationaler Ebene können zu einem fatalen Ausgang führen. Leider sind sich die Hierarchen der UOK oftmals nicht des gesamten destruktiven Zusammenhangs und der Folgen ihres Handelns in der Öffentlichkeit bewusst. Viele der aktuellen Probleme hätten vermieden werden können, wenn die Hierarchen anders agiert hätten.
  3. Die Konfrontation, der Mangel an Bereitschaft zum Dialog mit beliebigen Gegnern, einschließlich der Behörden und der Zivilgesellschaft, sowie das Bemühen, die eigene kategorische Richtigkeit und Unfehlbarkeit zu behaupten, können zu einer Marginalisierung der UOK führen und die Schaffung einer künftigen Daseinsform der Kirche unmöglich machen. Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in Sumy verfolgen: Es entsteht die Vorstellung einer „kleinen Herde“ von Gläubigen, die für den Glauben leiden und dessen Reinheit angeblich trotz „Verfolgungen“ bewahren. Diese Entwicklung wird durch Beispiele gewaltsamer Ereignisse in anderen Regionen noch verstärkt.
  4. Die Hierarchen und Geistlichen der OKU formulieren Argumente, die akzeptable Motive für die Enteignung des kirchlichen Eigentums der UOK begründen sollen. Dabei wird jedoch weder die Meinung noch das weitere Schicksal der jetzigen Anhänger der UOK in irgendeiner Form artikuliert (lediglich die vollständige Assimilation wird angestrebt, keinerlei Subjektivität).
  5. Die Behörden auf allen Ebenen haben einen Konsens erreicht, der allen Personen und Gemeinschaften, die zur UOK gehören, eindeutig negative Eigenschaften zuschreibt. Gleichzeitig wurden der OKU unabhängig von der Realität eindeutig positive Attribute zugewiesen. Die staatlichen Strukturen nehmen eine Haltung der totalen Isolierung, Ignorierung und Annahme einer grundsätzlichen Schuld aller Subjekte der UOK ein.
  6. Die anderen Konfessionen haben sich vollständig von der innerorthodoxen Konfrontation distanziert oder unterstützen die OKU. Keine einzige Konfession in der Oblast Sumy hat öffentlich ihre Unterstützung für die UOK erklärt.
  7. Über das Schicksal orthodoxer Gemeinden entscheiden häufig Menschen, die ihre Religiosität nicht im Gemeindeleben ausleben, wenig von Glaubensfragen verstehen, aber negative Vorurteile gegenüber der UOK hegen. Solche Leute treten in der Öffentlichkeit oft als Sprecher des „Volkswillens“ und der „Kirchgemeinden“ auf, ohne etwas mit ihnen zu tun zu haben. Von ihnen kommen die schärfsten Aussagen und Charakterisierungen. An antikirchlichen Aktionen nehmen Soldaten oder Freiwillige teil, die zu Gewaltanwendung zugunsten ihrer Positionen aufrufen, oft ohne in ihren Argumenten allzu wählerisch zu sein.
  8. Die derzeitige angespannte Situation füllt den Informationsraum, schafft eine Konfrontation in der Gesellschaft und erzeugt ein negatives Image. Viele verlassen die Religionsgemeinschaften, besuchen keine Gottesdienste mehr und nehmen nicht mehr an den Sakramenten teil. Diese Entwicklung ist auch in der Eparchie Sumy zu beobachten.

Erzpriester Dr. Georgij Taraban, Geistlicher der Ukrainischen Orthodoxen Kirche.

Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.

Bild: Die Verklärungskathedrale in Sumy, Hauptkathedrale der Eparchie Sumy. (© Nataliya Shestakova, CC BY-SA 4.0)