Vom "homo sovieticus" zum "homo dignus"

16. März 2022

Sie sind in Kiew und haben sich entschieden, in der Ukraine zu bleiben. Wie gehen Sie mit der Situation seit dem 24. Februar um?
Ich bin ein paar Kilometer von Kiew entfernt, in der Nähe von Vyschhorod. Meine Frau und meine Tochter haben die Stadt gerade mit unseren drei Katzen verlassen. Ich bin mit meinem Sohn Roman, der 25 Jahre alt ist, zurückgeblieben. Wir haben beschlossen, als Zeugen hierzubleiben, um Informationen aus dem Land zu bringen und um zu erzählen, was wir erleben. Ich gebe Interviews und beschreibe, was ich sehe. Ich kann nicht anders und mein Sohn auch nicht. Roman spricht acht Sprachen, er begleitet viele Journalisten, die vor Ort sind. Er geht an sehr gefährliche Orte und riskiert jeden Tag sein Leben. Aber ich kann ihn nicht davon abhalten, ich kann ihn nur unterstützen und ihn umarmen, wenn er geht. Es ist für ihn, wie auch für mich, eine innere Notwendigkeit, das Wahre zu sagen. Wir erleben hier ein echtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit, wir sind seine Zeugen. Wir verteidigen nicht nur unsere Haut, wir verteidigen eine bestimmte Vorstellung von Würde und Freiheit. Wenn wir das nicht tun, hat unsere Existenz keinen Sinn mehr.

Wir haben gerade fünfzehn sehr schwierige Tage hinter uns. Wir hören jede Nacht massive Bombenangriffe. Diese Woche haben wir einem der größten ukrainischen Komponisten, Valentin Silvestrov, geholfen, das Land zu verlassen. Nach einer dreieinhalbtägigen Reise hat der 84-Jährige zu Fuß die polnische Grenze überquert. Es ist ein schreckliches Bild, dass dieser große Mann, dieses Musikgenie, die Ukraine auf diese Weise unter Bombenangriffen verlässt. Außerdem habe ich nichts mehr von einer meiner ehemaligen Studentinnen gehört, einer bedeutenden Wissenschaftlerin, die in einem kleinen, 10km von Kiew entfernten Dorf Zuflucht gesucht hatte. Ihr Haus lag drei Kilometer von einer Großbäckerei entfernt, die bombardiert wurde: Dreizehn Menschen wurden getötet. Seitdem ist sie mit ihrer sechsjährigen Tochter verschwunden. Mein Sohn hat versucht, mit französischen Journalisten in dieses Dorf zu gelangen, aber es ist ihm nicht gelungen. Es gibt an diesem Ort keine humanitären Korridore und wir befürchten das Schlimmste. Menschen, denen die Flucht gelungen ist, berichten, dass tschetschenische Milizen, die berüchtigten Kadyrovzy, Zivilisten kaltblütig auf der Straße töten, manchmal sogar vor den Augen der Kinder. Es ist ein regelrechtes Massaker.

Außerdem wurden viele Wohnungen in Kiew seit mehreren Monaten von Leuten gemietet, die zu Kommandos aus Russland gehören und den Auftrag haben, Terror zu verbreiten. Die Einwohner Kiews versuchen, sie zu identifizieren. Seit Beginn dieses Krieges sind wir alle sehr aktiv, wir organisieren Tag und Nacht den Widerstand, um bereit zu sein, wenn die Zeit gekommen ist. Während ich zu Ihnen spreche, fürchten wir den Sturm auf Kiew und bereiten uns darauf vor.

Schließlich sind, wie Sie wissen, Millionen von Menschen auf der Flucht. Mein Sohn war gestern mit der Presse am Bahnhof von Kiew, um Menschen zu interviewen, die auf einen Zug warten, um in den Westen zu fahren. Es waren Tausende von Menschen und die Journalisten waren erstaunt, dass alle in den Hallen und in den Warteräumen sehr ruhig und solidarisch blieben. Das Fernsehen in Frankreich zeigt vor allem dramatische Szenen, in denen man sieht, wie die Menschen sich in die Züge stürzen, wenn diese am Bahnsteig ankommen. Aber was viel stärker ist, viel aussagekräftiger, ist die sehr würdevolle Erwartungshaltung, die auf allen Gesichtern der Kinder, der Jugendlichen und der älteren Menschen zu sehen ist. Es ist ein großes Warten auf Leben. Meiner Meinung erlebt die ganze Stadt Kiew in diesem Moment dieses Warten.

Auf der einen Seite gibt es dieses Warten, aber es gibt auch diesen Widerstand eines ganzen Volkes, der Bewunderung weckt. Worin besteht die tiefere Motivation der Ukrainer?
Unser Volk widersetzt sich dem Projekt der Wiederherstellung der Sowjetunion. Die UdSSR wurde vor fast einem Jahrhundert, am 30. Dezember 1922, offiziell gegründet. Putin will diesen Jahrestag in einigen Monaten mit großem Pomp feiern. Der Angriff auf die Ukraine kommt deshalb nicht von ungefähr. Er ist Teil seines Plans, zum Sowjetimperium zurückzukehren. Dabei handelt es sich jedoch um ein völlig dystopisches Projekt. Die Hoffnung, sich von der Angst und der Gewalt des Sowjetregimes befreien zu können, war das Leitmotiv der Unabhängigkeitsbewegung unseres Landes im Jahr 1991. Zwei grundlegende anthropologische Überlegungen haben unseren Aufbau nach 1991 motiviert: keine Angst vor Gewalt mehr zu haben und das Recht zu haben, die Wahrheit zu sagen.

Die Orangene Revolution in Kiew im Jahr 2004 führte zu einer Niederlage des neosowjetischen Rachegedankens, der sich gegen die Ukraine richtete. Die in dem darauffolgenden Jahrzehnt gesammelten zivilgesellschaftlichen Erfahrungen machten es möglich, zwischen jenen zu unterscheiden, die das sowjetische Narrativ teilten, und jenen, die ein anderes Narrativ wollten. Die „Majdan-Generation“ befreite Kiew nicht nur von der neosowjetischen Versuchung, sondern entlarvte auch die postmodernen Masken, hinter denen sich der archaische Typus des „homo sovieticus“ verbarg. Ende 2013 und Anfang 2014 markierte die Kiewer „Revolution der Würde“ einen Wendepunkt im historischen Übergang vom „homo sovieticus“ zum „homo dignus“. Der Geist unseres Widerstands war ethisch und ist es auch heute noch, bereichert von diesem Erbe.

Heute ist unser Volk vollkommen geeint. Dieser Krieg überwindet die religiösen, sprachlichen, ethnischen und sozialen Unterschiede jedes Einzelnen. Diesen Widerstand leisten sowohl ukrainischsprachige als auch russischsprachige Menschen, Juden oder auch Griechen, es ist ein einmütiger Widerstand gegen die Tyrannei. Es gibt sogar Menschen, die ohne jegliche Waffen Panzer aufgehalten haben, die durch ihr Dorf fuhren. Die Zivilbevölkerung ist extrem mutig.

Wir leisten Widerstand für unsere Würde, aber auch für die Würde der anderen Europäer. Wir kämpfen für „unsere und eure Freiheit“, um die berühmte Formulierung zu zitieren, die eine kleine Gruppe von Dissidenten auf einem Transparent entfaltet hatte, als sie 1968 auf dem Roten Platz gegen den Einmarsch sowjetischer Panzer in Prag protestierten. Putin führt einen Krieg nicht nur gegen die Ukraine, sondern auch gegen die europäische Kultur und die Demokratie. Er versucht, den europäischen Ethos zu zerstören, der mit seiner Weltanschauung konkurriert. Seit zwei Jahren in seinem Bunker eingesperrt, gefangen in seiner narzisstischen Dummheit dachte er, er würde Kiew innerhalb weniger Tage einnehmen und dort ein Marionettenregime errichten. Er hatte sich nicht vorstellen können, dass der ukrainische Widerstand so stark sein würde. 

Ist es möglich, dass Russland diesen Krieg verliert?
Auf der zivilen und politischen Ebene hat Putin diesen Krieg bereits verloren. Einerseits sind seine Soldaten nach dem, was wir vor Ort sehen, auf verlorenem Posten, sie wirken unorganisiert und demoralisiert. Sie dachten, sie würden mit Blumen begrüßt werden, was aber überhaupt nicht der Fall ist. Einige wussten nicht einmal, dass sie in den Krieg geschickt wurden, sie meinten, sie würden für eine „Sonderoperation“ in die Ukraine geschickt. Wir sehen, dass die russischen Soldaten keine Mobiltelefone bei sich haben. Wenn sie von ukrainischen Streitkräften gefangen genommen werden, rufen sie ihre Familien mit ukrainischen Telefonen an und erzählen, dass sie belogen wurden. Sie sehen auch, dass die Leichen der Getöteten nicht geborgen und in Massengräber geworfen werden. Der russische Staat unternimmt nichts, um diese toten Soldaten ihren Familien zurückzugeben. Er hat absolut keinen Respekt vor dem menschlichen Leben, egal ob es sich dabei um ukrainisches, russisches oder europäisches Leben handelt. Er zeugt von einem unvorstellbaren Maß an Zynismus und Grausamkeit.

Andererseits lehnt unsere Nation das Projekt des russischen Regimes ab. Wir stehen dem radikalen Bösen im Sinne Kants gegenüber. Der Aggressor wird das Land nicht halten können, er wird es nicht besetzen und Herr des Geschehens sein können. Da wir Widerstand leisten, wird die Antwort immer gewalttätiger. Unsere Städte brennen unter den Bomben, den Raketen und den russischen Granaten. Dieser Krieg zerschlägt nicht nur Fensterscheiben, sondern zerbricht auch Millionen von Leben. Erst diese Woche wurde ein nukleares Forschungszentrum in der Nähe von Charkiv angegriffen. Wir verfallen nicht in Panik, wir behalten im Gegenteil einen klaren Kopf, aber wir sind uns bewusst, dass wir uns am Rande des Abgrunds befinden. Putin kennt keine Grenzen und keine Bremsen. Ihm ist es egal, ob ein Atomunfall seine eigenen Soldaten oder die Zivilbevölkerung treffen könnte. Er ist in seiner tyrannischen Blase eingeschlossen. Ich denke, er ist von seiner Angst gelähmt und exportiert sie. Deshalb setzt er in seinem Land Propaganda im großen Stil ein, er legt den Medien einen Maulkorb an, er verhaftet und beseitigt jeden, der nicht so denkt wie er, er errichtet eine Diktatur in Russland.

Waren wir naiv?
Die westliche Bewusstseinsbildung kam viel zu spät. Dennoch haben einige Menschen seit Jahren vor der Realität des Putin-Regimes gewarnt. Wird der Krieg, den wir jetzt erleben, die Situation ändern? Ich weiß es nicht. Diese Woche wurde ich in eine französische Fernsehstation eingeladen, um als Zeuge aufzutreten. Ich war schockiert, als ich einem französischen Gesprächspartner gegenübersaß, der mir nicht zuhörte und Putins Argumente und Sichtweise übernahm, die darin bestand, dass die Ukraine ein „künstliches Land“ sei. Ich fühlte mich vor allem deshalb benutzt, weil meine Äußerungen anschließend mit einem ganzen pro-russischen Salat vermengt wurden, der die Aggression rechtfertigte. Das sind Leute, die Europa verraten, die Frankreich verraten, das sind „Kollaborateure“. Ich bin besorgt darüber, dass dieses Gift seit mehreren Jahren in eurer Gesellschaft destilliert wird.

Die einzige Frage, die meiner Meinung nach gestellt werden sollte, lautet: Sind Sie für oder gegen diesen Krieg? Wenn wir diese Frage nicht beantworten, befinden wir uns in einem schwammigen Denken. Jeder Einzelne muss sich in dieser Frage sehr klar positionieren. Einzelpersonen, die Medien, die kulturelle und wissenschaftliche Welt… Es ist schön und gut, runde Tische über die Ukraine zu veranstalten, über Frieden nachzudenken, Ballettaufführungen und Konzerte zu organisieren, aber das ist nur eine hübsche kulturelle Parade, welche die Aggression verschleiert. Vor allem muss sich jeder klar zu dieser Frage positionieren, denn es geht in Wirklichkeit um die von Hannah Arendt aufgeworfene Frage der individuellen Verantwortung. Schließlich wiederhole ich, dass dieser von Putin geführte Krieg nicht nur ein Krieg gegen die Ukraine, sondern ein Krieg gegen ganz Europa ist. Wir sitzen alle im selben Boot.

Was erwarten Sie von den Europäern?
Ich erwarte Entschlossenheit und Einigkeit. Die erste Welle von Wirtschaftssanktionen gegen Russland war eine notwendige und sehr wichtige Reaktion. Sie trägt nun Früchte. Die Russen werden sich bewusst, dass Putins Regime sie in den Abgrund stürzt. Viele fliehen derzeit aus ihrem Land. Diese Sanktionen sind zudem ein sehr gutes Mittel, um die russische Wirtschaft zu schwächen und damit auch die Kriegswirtschaft. Und da die Presse mundtot gemacht wurde und eine regelrechte Bleimatte über das Land gelegt wurde, war dies die einzige Möglichkeit, eine Wirkung zu provozieren.

Jetzt ist es wichtig, dass die europäischen Politiker und Bürger zu einer zweiten Welle von Maßnahmen übergehen. Sie müssen sich unbedingt von ihrer Abhängigkeit von russischem Gas und Öl befreien und ein energiepolitisch starkes und geeintes Europa aufbauen. Außerdem muss der Prozess der Integration der Ukraine in die Europäische Union dringend beschleunigt werden. Schließlich muss jeder Einzelne Schritt für Schritt gegen die Propaganda des Kremls, gegen Fake News und gegen diese ständige Verzerrung der Wahrheit kämpfen. Die Zivilgesellschaft muss diese Aktionen unterstützen, demonstrieren und die Botschaften mit allen Mitteln verbreiten. Wir stehen an einem historischen Wendepunkt, wir müssen unsere gemeinsame Republik wiederherstellen, die Werte, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Ausdruck gebracht wurden. Es geht um die Verantwortung eines jeden Einzelnen. Weichen Sie nicht zurück, leisten Sie Widerstand, wo immer Sie sind, jeder an seinem Platz, jeder mit seinem Beruf. Leisten wir gemeinsam Widerstand.

Konstantin Sigov, Direktor des „European Humanities Research Center“ und des Verlags „Dukh i Litera“ an der Universität der Kyiv-Mohyla Academy.

Das Gespräch führte Flore de Borde der Zeitschrift „Esprit“ am 9. März 2022. Aus dem Französischen übersetzt von Regula Zwahlen.

Bild: Euromajdan 2014 in Kiew und Banner der Demonstration für den Prager Frühling auf dem Moskauer Roten Platz am 25. August 1968: „Für unsere und eure Freiheit“. (Wikimedia Commons)