Nachruf auf Erzpriester Georgij Orechanov

20. Februar 2020
Georgij Orechanov gehörte zu jener Generation orthodoxer Gläubiger in Russland, die im Zuge der politischen Umwälzungen der 1980er und 1990er Jahre ihren Weg zur Kirche gefunden haben. Geboren am 2. Mai 1962 in Moskau, hat er zunächst Mathematik und Psychologie an der Lomonossov-Universität in Moskau studiert, um im Jahr 1991 das Studium an der Theologischen Fakultät des St. Tichon-Instituts aufzunehmen. An dieser Einrichtung, der heutigen St. Tichon-Universität, sollte er seine weiteren wissenschaftlichen Qualifikationen erhalten und als ihr Prorektor über viele Jahre lang unermüdlich tätig sein.

Seinen Forschungsschwerpunkt bildete die russische Kirchengeschichte des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Bereits in seinen Qualifikationsarbeiten hat er sich mit den kirchlichen Reformbewegungen befasst, die in das Landeskonzil von 1917 münden sollten. Auch hatte er bereits hier für sich jenen Schriftsteller entdeckt, der ihn die nächsten Jahre über begleiten sollte: Lev N. Tolstoj. Sein besonderes Interesse galt dabei dem Konflikt Tolstojs mit der damaligen Russischen Orthodoxen Kirche. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Konflikts wurde erst Anfang der 1990er Jahre möglich. Mit seiner umfangreichen Arbeit „Die Russische Orthodoxe Kirche und L. N. Tolstoj: Ursachen des Konflikts und seine Wahrnehmung durch die Zeitgenossen“ («Русская Православная Церковь и Л. Н. Толстой: причины конфликта и его восприятие совеременниками») hat Georgij Orechanov einen entscheidenden Beitrag zu dieser Aufarbeitung geleistet. In zahlreichen Aufsätzen hat er sich darüber hinaus mit der „religiösen Krise“ im Russland des 19. Jahrhunderts befasst und konnte hier die Kritik, die über Tolstoj hinaus auch von anderen bedeutenden russischen Schriftstellern geäußert worden ist, positiv als Impuls zur Fortentwicklung eines in weiten Teilen erstarrten kirchlichen Lebens werten. In diesem Sinn hat er, der 1999 zum Priester geweiht wurde, sich auch mit Tendenzen in der gegenwärtigen russischen Gesellschaft und Kirche befasst. Skeptisch gegenüber statistischen Daten, die beeindruckende Wachstumszahlen belegen, war ihm daran gelegen, Prozesse der Säkularisierung in Russland genauer zu analysieren und insbesondere ein Bewusstsein für die zunehmende Entfremdung der Jugend von der Kirche zu schaffen.

Seit 2001 hatte Georgij Orechanov verschiedene Leitungsfunktionen in der Verwaltung inne, zunächst als Dekan der Theologischen Fakultät, dann als Prorektor der St. Tichon-Universität. In den letzten Jahren verantwortlich für den Bereich internationale Beziehungen, baute Georgij Orechanov mit großem Engagement ein wissenschaftliches Netzwerk mit Partneruniversitäten in verschiedenen Ländern auf. Dazu gehörte unter anderem auch die Humboldt-Universität zu Berlin, die gemeinsam mit der St. Tichon-Universität alle zwei Jahre internationale Studierendenkonferenzen veranstaltet und wissenschaftliche Projekte durchgeführt hat. Georgij Orechanov war hier die entscheidende Kraft, die den Aufbau der Partnerschaft vorangetrieben und mit Ideen vielfach bereichert hat. Zu einem der Projekte, die ihm besonders am Herzen lagen, gehörte eine Ausstellung über Neomärtyrer des 20. Jahrhunderts, deren Schicksale an der St.Tichon-Universität wissenschaftlich aufgearbeitet worden sind. Nach Stationen in Russland und Italien soll die Ausstellung in diesem Jahr auch in Deutschland gezeigt werden.

Georgij Orechanov war ein orthodoxer Theologe, der sich gleichermaßen durch wissenschaftliche Objektivität wie religiöse Tiefe auszeichnete. Als Wissenschaftsorganisator hat er Herausragendes geleistet. Ein besonderes Verdienst liegt in seinem beharrlichen Einsatz für die Verständigung zwischen Konfessionen und Kulturen. Hier sind vielfältige persönliche Kontakte entstanden, die nicht zuletzt seiner großen Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit zu verdanken waren. Nach dem Hochfest der Theophanie ist Georgij Orechanov in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar 2020 unerwartet verstorben. Царство ему небесное!

Weitere Informationen zur Vita und zu Publikationen (u.a. auch in deutscher Sprache) von Georgij Orechanov finden sich unter dem folgenden Link: http://pstgu.ru/faculties/theological/professors/i_G_Orehanov/

Jennifer Wasmuth, Direktorin des Instituts für Ökumenische Forschung in Strasbourg.

Bild: © St. Tichon Universität