Natallia Vasilevich zu Kurapaty und zum sozialen Engagement der Kirchen in Belarus

09. Mai 2019

Vor kurzem kam es bei der belarussischen Gedenkstätte Kurapaty zu Protesten gegen die Entfernung von Kreuzen durch staatliche Behörden. Wie stehen die Kirchen zu dem Fall?
Kurapaty ist ein Waldstück an der Peripherie von Minsk, in der Nähe eines Wohnkomplexes. Ein Wäldchen und Felder, wo friedliche Sowjetbürger vor 40 Jahren gern im Winter Ski liefen, im Sommer ein Picknick machten und wo sie das ganze Jahr über ihre Hunde ausführten. Ende der 1980er Jahre wurden hier zahllose Grabstätten gefunden, riesige Massengräber mit den Überresten tausender Menschen. Nachforschungen ergaben, dass in der Erde die Opfer der stalinistischen Repressionen der 1930er Jahre liegen. Sich vorzustellen, dass tausende namenlose, durch das Sowjetregime Ermordete direkt im benachbarten Wäldchen liegen, war ein Schock. So fand gerade in Kurapaty 1988 an den Dzjady[1] auch das erste große Treffen der demokratischen und nationalen Opposition statt. Kurapaty wurde zum Symbol der Unmenschlichkeit des sowjetischen Regimes. Schon 1989 wurde hier das erste „Kreuz des Leidens“ errichtet.

Kurapaty wurde auch für die Kirchen wichtig. Einerseits, weil zu den Opfern der Repressionsmaschine viele Gläubige zählten, und andererseits weil sie die Notwendigkeit empfanden, das Gedenken an die Opfer zu ehren und die unmenschliche – und deshalb auch gottlose – Vernichtung von Menschen zu verurteilen. Sowohl Katholiken als auch Orthodoxe schlugen zu Beginn der 1990er Jahre Projekte zur Errichtung von Wegkreuzen und zum Bau von Kapellen vor. 1995 gab der damalige russische Patriarch Aleksij II. (Ridiger) bei seinem Besuch in Belarus dem Bau einer Kirche in Kurapaty seinen Segen: „Der göttliche Segen begleitet die Errichtung einer Kirche am traurigen Ort des Leidens vieler tausender Menschen, die in Kurapaty ein Märtyrerende erlitten.“ Der Kirchenbau begann sogar, doch Mitte der 2000er Jahre ließen die Behörden den angefangenen Bau abbauen; diese Episode ist der breiten Gesellschaft praktisch unbekannt.

Nichtsdestotrotz führten sowohl Katholiken als auch Orthodoxe in Kurapaty regelmäßig Gottesdienste durch. Der Gründer der am nächsten gelegenen Auferstehungs-Kirche, Priester Vladimir Stukatsch, feierte in Kurapaty die Totenliturgie. Anatolij Kusnezov, der Ikonenmaler der Gemeinde, brachte im Wäldchen Ikonen auf Steinen an, darunter Bilder belarussischer Neumärtyrer und Geistlicher, die 1937 in Minsk erschossen worden waren: Priester Dmitrij Plyschevskij, Erzpriester Vladimir Subkovitsch, Priester Ioann Voronez, Priester Michail Plyschevskij. Es entstand eine Kirche unter offenem Himmel, mehrfach fanden Totenliturgien statt. In den letzten Jahren las Priester Adrian Latuschko (Gemeinde der Entschlafens-Kirche im Dorf Zna) hier regelmäßig die Totenliturgie. Von Zeit zu Zeit halten auch andere Priester Gedenkgottesdienste ab. Bei seinem ersten Besuch in Minsk 2009 wies der derzeitige russische Patriarch Kirill auf die einmalige Bedeutung von Kurapaty hin: „Der ganzen Welt sind die Namen bekannt geworden, bis dahin unbemerkt auf der schmerzensreichen belarussischen Erde. Ich meine das Waldstück Kurapaty nahe Minsk, wo von den atheistischen Behörden unschuldig zehntausende Menschen erschossen wurden, und Chatyn, das 136 belarussische Dörfer symbolisiert, die von den Nazis und ihren Erfüllungsgehilfen mitsamt ihren Bewohnern verbrannt wurden.“

Für das politische Regime von Präsident Alexander Lukaschenko, der sich selbst mit dem sowjetischen Erbe assoziiert, ist die demonstrative Erinnerung an die Verbrechen des Sowjetregimes ein Trigger. So ist die Konfrontation zwischen Aktivisten und den Behörden in Kurapaty auch schon älter. Anfang der 2000er Jahre begannen die Behörden eine Autobahn in unmittelbarer Nähe zu Kurapaty zu bauen. Die Aktivisten befürchteten, die Autobahn könnte über die Grabstätten verlaufen, und begannen Holzkreuze zu errichten. Fast 20 Jahre lag die Errichtung der Kreuze und Pflege des Gebiets auf den Schultern privater Initiativen. Die letzte Wendung der Konfrontation begann im Zusammenhang mit dem Bau von Vergnügungsanlagen in der Nähe von Kurapaty, darunter ein Restaurant. Protestierende Aktivisten errichteten neue Kreuze, die von der Autobahn aus gut zu sehen waren, und mit der Erinnerung, dass nebenan ein Ort der Trauer und des Leidens ist, störten sie die Restaurantgäste beim Genuss von Essen und Musik.

Am 1. März gab Lukaschenko die Anweisung, in Kurapaty „Ordnung herzustellen“, „ob das jemand will oder nicht“. Insbesondere die großen neuen Holzkreuze nahm er ins Visier: „Wozu habt ihr diese weißen Kreuze auf dem Gelände aufgestellt. Hat euch die Kirche erlaubt, sie aufzustellen?“ Am 4. April 2019, in der Woche der Kreuzesverehrung, wenn die Orthodoxe Kirche das Kreuz besonders ehrt, wurden 70 große Holzkreuze mithilfe von Spezialtechnik brutal demontiert und in orange (Abfall-)Fahrzeuge geladen – darin äußerte sich irgendeine prophetische Ironie der Kalenderzeit.

Die prophetische Ironie liegt auch in der Symbolik des Ortes, da Lukaschenko seinen Kommentar am antipodischen Ort zu Kurapaty abgab – im Museumskomplex der „Stalin-Linie“ (einer Verteidigungslinie der Roten Armee), die den Namen des Urhebers der Massenrepressionen trägt. Wie als alleiniger Herr der belarussischen Erde erklärte Lukaschenko, dass er in Kurapaty Ordnung macht und zwar „mit Herz“, als ob er den eigenen Vorgarten verschönern würde: „an den Zaun hängen wir Blumen, wie auf dem Mittelstreifen des Prospekts der Sieger. Schön? Im Sommer ist es schön“.

Auf die Entfernung der Kreuze reagierte das Oberhaupt der katholischen Kirche in Belarus, Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz, der sich jetzt nach einer Operation im Krankenhaus befindet, sofort. Er trat noch einmal auf, als zur Herstellung der Ordnung auch Metallkreuze abmontiert wurden. Aber seitens der Leitung der orthodoxen Kirche folgten keine Erklärungen. Orthodoxe Gläubige schlossen sich den Gebeten in Kurapaty an, einzelne Geistliche äußerten sich in Blogs, in den sozialen Netzwerken oder in Interviews mit Journalisten. Vachtang Kipschidse, ein nicht gerade hochrangiger Vertreter des Kirchlichen Außenamtes des Moskauer Patriarchats, trat auf, aber die Kirchenleitung ließ sich mit einer Erklärung Zeit.

Einige Geistliche und Gläubige schlossen sich zu einer Initiativgruppe zusammen und verfassten einen gemeinsamen Brief an Metropolit Pavel (Ponomarjov), das Oberhaupt der Belarussischen Orthodoxen Kirche (BOK); eine der Autorinnen dieses Briefes bin ich. Insgesamt unterschrieben den Brief 100 Personen: Absolventen Geistlicher und Theologischer Bildungseinrichtungen sowie Mitarbeiter der BOK, darunter acht Geistliche. Der Brief enthielt die Bitte an Metropolit Pavel, im Namen der BOK Stellung zur Wichtigkeit von Kurapaty und der Unzulässigkeit eines so brutalen Vorgehens gegen Kreuze – ein wichtiges christliches Symbol, aber auch ein wichtiges Symbol der Trauer und des Gedenkens – zu nehmen. Metropolit Pavel las den Brief, lehnte ein Treffen mit Vertretern der Gruppe ab, lehnte es auch ab, irgendwie auf den Brief zu reagieren, und enthielt sich überhaupt jeglichen Kommentars, womit er viele Geistliche und Gläubige enttäuschte.

Außerdem fand in diesem Jahr das offizielle orthodoxe Gebet an der Raduniza[2] in Kurapaty nicht statt. Es geht darum, dass ein solches Gebet unter freiem Himmel eine Massenveranstaltung ist, für die eine besondere Bewilligung der Behörden erforderlich ist. Während früher die Behörden sogar ein unbewilligtes Gebet nicht verhinderten, so ist die Situation heute angespannter. Zudem ist es laut einem neuen Beschluss des Ministerrats nötig, bei der Durchführung von Massenveranstaltungen für die Gewährleistung der Sicherheit durch die Polizei zu bezahlen; bei elf bis 100 Personen beträgt der Preis 350.- Euro, von 100 bis 1000 Personen 2600.- Euro.

Zudem wird Kurapaty zu einem „geschlossenen“ und fast „geregelten“ Ort. Nach der Entfernung der Kreuze stellten die Behörden in ihrer Sorge um die Schönheit und Ordnung „für die Seele“ dort einen Zaun auf, um den Ein- und Ausgang der Gedenkstätte zu kontrollieren. So können sie alle unbewilligten Gebete unterbinden.

Die repressive Staatsmaschinerie ist so stark und die Zivilgesellschaft, die sich mit dem Problem Kurapatys beschäftigt, so schwach, während für die Mehrheit der Menschen dieses Thema dermaßen irrelevant ist, dass es sehr schwierig ist, die staatlichen Aktivitäten aufzuhalten. Eine offizielle Erklärung seitens der BOK – der größten Kirche in Belarus – könnte ein Instrument sein, um das brutale Vorgehen der Behörden in Kurapaty zu stoppen. Aber die Leitung der BOK schweigt, und mit diesem Schweigen unterstützt sie die Regierung.

Wie gestalten sich die Beziehungen zwischen den verschiedenen Kirchen in Belarus?
Wenn Präsident Lukaschenko und andere Beamte über Religion in Belarus sprechen, unterstreichen sie immer, dass in unserem Land „interkonfessioneller Friede und Einigkeit“ herrschen. Das ist tatsächlich so, Konflikte auf konfessioneller Ebene gibt es in Belarus praktisch nicht. Aber das liegt nicht daran, dass die Kirchen miteinander befreundet wären, sondern eher daran, dass sie einander schlicht nicht bemerken.

Jede Kirche in Belarus lebt mit ihren Sorgen ihr eigenes Leben: Jede hält Gottesdienste ab, baut Kirchen, sucht finanzielle Ressourcen für die Sicherstellung ihrer Arbeit und bemüht sich, sich von der Politik fernzuhalten. Irgendwo auf lokaler Ebene oder der Ebene einzelner Geistlicher, Gemeinden oder Initiativen gibt es Austausch und kleine gemeinsame Projekte, oft mit ausländischen ökumenischen Partnern, die versuchen, die Zusammenarbeit zwischen Vertretern verschiedener Kirchen in Belarus in Gang zu bringen, und sei es nur im Bereich der Diakonie.

Manchmal tauchen in der Öffentlichkeit Fragen auf, die die Kirchen als „ihre eigenen“ betrachten, insbesondere Abtreibung, Fortpflanzungsmedizin, Geschlechtergleichheit und Familienwerte; aber sogar wenn die großen Kirchen ähnliche Positionen vertreten, erklären sie diese einzeln. Sie haben sowieso fast keine Möglichkeiten, ernsthaft die Entscheidungen der Legislative zu beeinflussen, wenn ihre Haltung der staatlichen Position widerspricht.

Was für eine Rolle spielen die Kirchen allgemein in der Zivilgesellschaft?
Unter den Bedingungen eines autoritären Regimes und aufgrund unterentwickelter Strukturen der Zivilgesellschaft ist es für alle Teilnehmer des öffentlichen Lebens in Belarus nicht leicht. Der Staat ist ein einheitlicher Monolith, ein Subjekt, nicht ein Feld für gesellschaftliche Diskussionen. Dieses Modell sieht vor, dass jede beliebige Aktivität entweder prostaatlich ist, oder, wenn sie nicht auf der Linie der staatlichen Politik ist, dann steuert sie automatisch auf eine Konfrontation mit der Regierung zu.

So beinhaltet die Teilnahme an zivilgesellschaftlichen Aktivitäten einerseits immer das Risiko von Konfliktsituationen mit dem Staat, und in der Regel sind die Kirchen stets bemüht, mit dem Staat möglichst wohlwollende Beziehungen aufrechtzuerhalten, indem sie sich nur in Ausnahmefällen auf eine Konfrontation einlassen. Andererseits ist der Satz von „Ausnahmefällen“ sehr begrenzt, dabei handelt es sich erstens um Eigeninteressen der religiösen Organisationen, und zweitens um mit traditionellen Werte verbundene Fragen, also Proteste gegen Abtreibung, „Genderideologie“ usw. Und gerade diese Ziele in der Öffentlichkeit trennen die Kirchen eher von anderen Vertretern der Zivilgesellschaft.

Natallia Vasilevich, Direktorin des kulturellen Bildungszentrums Ecumena in Minsk, Doktorandin an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn.

Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.

[1] Eine slawische Gedenkfeier für die Vorfahren, die heute in Belarus am 2. November gefeiert wird.

[2] Ein russisch-orthodoxer Totengedenktag am zweiten Dienstag nach Ostern.

Bild: Kurapaty, Minsk (Bestalex, Creative Commons 4.0)