Konrad Clewing zu 20 Jahren NATO-Bombardierung Jugoslawiens

04. April 2019
Der serbische Patriarch Irinej bezeichnete die „Tage der NATO-Aggression“ als die „tragischsten unserer Geschichte“. Wie werden die NATO-Bombardierungen vor 20 Jahren heute in Serbien wahrgenommen?
Als Angehöriger des Geburtsjahrgangs 1930 sollte es Patriarch Irinej bei nüchterner Betrachtung besser wissen: die grauenhaften Verbrechen des über Kroatien und Bosnien herrschenden „Unabhängigen Staates Kroatien“ an der dortigen serbischen Bevölkerung fanden in den Jahren 1941–1944/45 zwar nicht in Irinejs zentralserbischer Heimat statt, aber doch zu seinen eigenen Lebzeiten. Sie waren für das serbische Volk ohne jeden Zweifel viel tragischer als die NATO-Angriffe des Jahres 1999. Irinejs jetzige Äußerungen fügen sich aber gut in das Bild vom öffentlichen serbischen Gedenken an die Zeit vor 20 Jahren, in dem die Überhöhung des eigenen Leids ins Enorme gestiegen ist. Gesagt hat Irinej seine Worte als Eröffnungsredner bei der zentralen staatlichen Gedenkveranstaltung am 24. März 2019 in Niš – wo er vor dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić und dem Präsidenten des „zweiten serbischen Staates“, der bosnischen Republika Srpska, sprach. Das Motto jener Veranstaltung fasst die vorherrschende serbische Überzeugung, 1999 unschuldiges Opfer einer unbegreiflichen Aggression des Westens geworden zu sein, treffend zusammen: „Vergeben werden wir, wenn wir es einmal können sollten, vergessen aber höchstens dann, wenn es unsereins nicht mehr geben sollte“.

Irinej führte auf der Tribüne die Geschehnisse von 1999 auf Pläne der Mächtigen der Welt zurück, „ein Volk und einen friedliebenden Staat zu vernichten“, und zögerte nicht, diese „Pläne“ als Werk der Hölle zu bezeichnen. Heute am nötigsten, so Irinej, sei die Einigkeit, „um die Heiligtümer in Kosovo und Metohija zu verteidigen“. Und weiter: „Dieses heilige Land dürfen wir an niemanden verschenken, wir müssen es mit allen erlaubten Mitteln verteidigen; möge Gott nicht geben, dass wir auch manch andere Mittel verwenden werden. Wir wünschen das nicht und beten zum Herrn, dass wir nicht in eine solche Lage kommen werden.“

Die unverhohlene Erwägung eines neuen Krieges steht in der serbischen Öffentlichkeit eher für die radikalere nationalistische Strömung. Im Munde Irinejs fügen sich diese Worte aber in eine persönliche Gesamtlinie. Während nicht wenige äußere Betrachter ihn wegen seiner gewissen Offenheit für interkonfessionellen Dialog oder vielleicht sogar Ökumene mit dem Katholizismus als gesprächsbereit empfinden, ist er gegenüber den direkten Nachbarn und einstigen Kriegsgegnern der Serben – Kroaten, Bosniaken und Albaner – doch eher ein Hardliner. In Sachen Kosovo deklarierte er gleich im Jahr seiner Wahl zum Patriarchen 2010 internationale Anerkennungen des neuen Staats zur Sünde. Kurz nach dessen Unabhängigkeitserklärung hatte er, damals noch langjähriger Bischof von Niš, festgehalten: „Kosovo und Metohija sind nicht verloren; ganz einfach, unser Volk wird das niemals akzeptieren. Das ist heiliges serbisches Land, wo unser Staat geschaffen wurde, unsere Geschichte und Kultur. […] Die Juden haben 2000 Jahre abgewartet, um nach Jerusalem zu ziehen. Ich hoffe, dass wir nicht so lange warten werden, denn Kosovo ist in Serbien und Serbien ist auf dem Kosovo […].“ Im April 2018 klang bei ihm ein zusätzliches Motiv an: „Wir glauben ebenso an diese Welt wie an die Hilfe Gottes und des himmlischen Serbiens, dass Kosovo nicht in die Hände von, leider, Nichtchristen gelangen wird.“ Passend dazu sind wiederholte Äußerungen Irinejs, Kosovo sei „unser Golgota und unser Jerusalem“, wie auch die regelmäßigen Darlegungen seiner Meinung, dass im 20. Jahrhundert nur Armenier und Juden ähnlich gelitten hätten wie das serbische Volk.

Der Einsatz der NATO sollte die jugoslawischen Streitkräfte zum Abzug aus Kosovo bewegen und die dortige albanische Bevölkerung schützen. Wie wird in Kosovo der Ereignisse vor 20 Jahren gedacht?
Die kosovarische Position zu den Ereignissen von 1999 hat nur eine strukturelle Gemeinsamkeit mit der serbischen: Aspekte, in denen die andere Seite zum Leidtragenden geworden ist, spielen für die eigene Wahrnehmung auch hier keine oder fast keine Rolle. Albanischerseits wird der NATO-Luftangriffe als grundlegendem Beitrag zur Befreiung von der serbischen Herrschaft dankbar gedacht, vor allem mit Blick auf die Rolle der USA. Abgesehen davon stellt das Gedenken an die Luftschläge nur einen Pfeiler der albanischen Erinnerung dar, neben den Kampfhandlungen der „Nationalen Befreiungsarmee des Kosovo“ (UÇK) und der hunderttausendfachen Betroffenheit von Flucht und Vertreibung vor serbischer Militär- und Polizeigewalt, die für gut 10‘000 Kosovaren den Tod bedeutete. Das staatliche und öffentliche Gedenken gilt denn auch vorzugsweise dem Kriegsende und dem vom Westen am Ende erzwungenen Abzug der serbischen Streitkräfte (der 12. Juni ist als „Tag des Friedens“ amtlicher Feiertag). Dass danach eine mehrmonatige Phase großer Gewalt gegen im Lande verbliebene Serben folgte, wird kaum je erinnert.

Wie steht es heute um das Zusammenleben von Serben und Albanern in Kosovo?
Die innerstaatlich wie international festgezurrte Rechtsordnung Kosovos sieht für alle ethnischen Minderheiten sehr weitgehende Sprachen- und politische Mitwirkungsrechte vor. Für einen symbolischen Ausdruck können die staatlichen Feiertagsregeln herhalten: mit dem je ersten Weihnachtsfeiertag beider Konfession, dem Ostersonntag und Ostermontag gibt es vier christliche amtliche Feiertage (als Entgegenkommen an die etwa zwei-drei Prozent Katholiken und die rund fünf Prozent Orthodoxen in der Bevölkerung), während für die über 90 Prozent Muslime nur zwei staatliche Feiertage zu Buche stehen.

Im Zusammenleben der albanischen Mehrheit und der serbischen Minderheit hat sich seit 1999 enorm viel verändert. Nach Monaten von Lebensgefahr für jeden Serben außerhalb der Enklaven unmittelbar nach Kriegsende und noch jahrelang stark eingeschränkter Bewegungsfreiheit sind heute derart existenzielle Probleme schon seit langem so gut wie verschwunden. Aber in den Städten (außer in Nordmitrovica, wo umgekehrt kaum Albaner verbleiben konnten) gibt es praktisch kein Zusammenleben mehr, da es keinen serbischen Bevölkerungsanteil mehr gibt. Die serbische Landbevölkerung im Großteil des Kosovo fügt sich heute derweil pragmatisch in beide Institutionengefüge (das staatliche kosovarische wie auch das daneben existierende, von Serbien unterhaltene) ein. Ihre überwiegende Loyalität gilt aber aus begreiflichen Gründen eher Serbien, das im serbisch dominierten kleinen Norden des Landes nahezu ausschließlicher Bezugspunkt ist. Begreiflich ist diese Haltung (und damit einhergehend die Schwierigkeit oder gänzliche Ablehnung, sich geistig als Minderheit innerhalb Kosovos zu verorten) allein schon vor dem Hintergrund des fortbestehenden Rechtsanspruches Serbiens, demzufolge „Kosovo und Metohija“ untrennbarer Bestandteil Serbiens sei. Konsequente Abweichung hiervon wäre in der örtlichen Logik Verrat.

Welche Rolle spielen dabei die Religionsgemeinschaften?
Hier muss man zunächst vor Augen haben, dass die drei wichtigen Religionsgemeinschaften sämtlich auch national zuordenbar sind: neben wenigen Hundert Kroaten sind alle Katholiken des Landes Albaner; neben einigen Zehntausend Bosniaken, Goranen, Türken, Roma und Ashkali sind fast alle Muslime des Landes ebenfalls Albaner; und die Orthodoxen in Kosovo sind abgesehen von einigen Roma sämtlich Serben. Das schlägt sich auch innerhalb der religiösen Institutionen und in deren gesellschaftlicher, politischer und sprachlicher Praxis nieder. Wichtig ist auch: Die überproportionale gesellschaftliche Bedeutung des Katholizismus gilt nur inneralbanisch und wirkt damit im Verhältnis von Katholiken und Muslimen, nicht aber durch Ökumene zwischen Katholiken und Orthodoxen.

Die internationale Gemeinschaft hat seit 1999 nur wenig unternommen (mit gewisser Ausnahme der OSZE in jüngeren Jahren), um die Religionsgemeinschaften in die Bemühungen um interethnischen Dialog und albanisch-serbische Aussöhnung einzubeziehen. Annäherung zwischen Orthodoxen und Nichtorthodoxen kommt fast nur informell und rein zufällig unter lokalen Bedingungen beziehungsweise aufgrund von individuellen Konstellationen zustande. Auf strukturell-institutioneller Ebene hingegen stellen die Religionsgemeinschaften eher Hindernisse für etwaige Aussöhnung dar. Das gilt zuvörderst für die serbisch-orthodoxe Seite, allein schon deshalb, weil sie viel mehr als ihre albanisch geprägten religiösen Gegenstücke auch einen Kernpfeiler der ethnischen Gruppenexistenz darstellt. Die orthodoxe Kirche verortet sich konsequent gesamtserbisch und sieht sich als Sachwalter des serbischen Volkes (und Staates) in Kosovo, bis hin zum Blick auf den eigenen Grundbesitz. Das ist gut zu verstehen, im Prinzip sogar auch für die örtliche Gegenseite. Sehr hinderlich für Aussöhnung ist aber die kirchliche orthodoxe Sicht auf die Geschichte und die jüngeren Kriegsereignisse: Analog zur Haltung in Serbien ist nur von dem eigenen Leid die Rede, und jede chronologische Abfolge der Gewaltereignisse wird dadurch negiert. Dass 1998 und vor allem 1999 – durch András Riedelmayer, Harvard, in einem großen Projekt seinerzeit genauestens dokumentiert – Hunderte islamische Stätten durch serbische Truppen systematisch zerstört wurden, ehe es zu vermehrter Gewalt auch gegen orthodoxe Stätten kam, wird dadurch völlig ausgeblendet. Auch das allzu enge Zusammenwirken zwischen serbisch-orthodoxer Kirche und dem Milošević-Regime in den Jahren vor 1999 im Zuge der diskriminatorischen damaligen Herrschaftsordnung in Kosovo spielt in den kirchlichen Augen offenbar keinerlei Rolle. Die damals in Gang gesetzten nationalsymbolisch gemeinten Kirchenbauten (so in Gestalt der unfertig gebliebenen Kirche auf dem Gelände der Universität) legen von dieser Phase aber bis heute unübersehbar Zeugnis ab. Solange die orthodoxe Kirche nicht in diesen ideellen Punkten umsteuert, wird diese Sicht der Dinge ein dauerndes Hindernis im Zusammenleben bleiben. Denn ein umgekehrtes Aufbruchssignal, wie es in den 1960er Jahren die polnischen katholischen Bischöfe an den deutschen Katholizismus zu geben imstande waren, ist leider von katholischer und muslimischer Seite in Kosovo auch nicht zu erhoffen.

Dr. Konrad Clewing ist Historiker am Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (Regensburg) und arbeitet dort als Forscher und Herausgeber zur südosteuropäischen Geschichte, darunter speziell zu Kosovo.

Bild: © IOS/neverflash.photo.